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Vor dem Reichstag wirkt die europäische Flagge klein. "Berlin ist nicht das Zentrum der EU", betont hingegen der österreichische Schriftsteller Robert Menasse.

© dpa/Karlheinz Schindler

Europa in der Krise: "Berlin ist nicht das Zentrum der EU"

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse geht hart mit der europapolitischen Rolle von Kanzlerin Angela Merkel ins Gericht. Sie sei "ein Zwerg auf dem politischen Grabstein vom Europäer Helmut Kohl", sagt der Autor im Interview mit dem Tagesspiegel am Sonntag.

Herr Menasse, Sie schreiben gerade an einem Roman, der in Brüssel spielt – die Hauptfigur ist ein Beamter der EU-Kommission. Haben Sie ein konkretes Vorbild?

Ich habe im Lauf von über zwei Jahren sehr viele Gespräche mit Beamten geführt, sie studiert, weil ich zunächst einmal wissen wollte: Sind die überhaupt literaturtauglich? Kann man sie typisieren? Was machen die den ganzen Tag? Taugt das für einen Plot? Es wurde spannender, als ich mir erhofft hatte. Aber ich schreibe sicher keinen Schlüsselroman.

Welchen Zugang hatten Sie bei Ihren Recherchen in der EU-Kommission?

Ich war verblüfft, wie offen und zugänglich die meisten Kommissionsbeamten sind. Ich hatte den Eindruck, sie arbeiten enorm viel und sehr engagiert, leiden unter ihrem schlechten Image und sind schon deshalb sehr hilfsbereit, wenn jemand sich interessiert, was sie wirklich machen.

Stehen Sie deshalb den viel geschmähten „Eurokraten“ grundsätzlich eher mit Sympathie gegenüber?

Nein. Erstens wird ja mit dem Begriff „Eurokraten“ alles in einen Topf geworfen, die wirklichen Europäer in der Kommission, die Karrieristen, die heute in diesem und morgen in einem anderen System bereit sind, Karriere zu machen, oder die Nationalisten im Rat, die für mich verwerflich sind, die Dümmsten überhaupt. „Eurokrat“ ist ein Begriff wie „der Deutsche“ – gemessen an der Realität eine Fiktion. Größte Sympathie habe ich für die europäische Idee und für jene, die sie zu retten versuchen. Leider ist die Idee im öffentlichen und allgemeinen Bewusstsein weitgehend in Vergessenheit geraten. Wir müssen sie in der öffentlichen Debatte erst wieder mühsam rekonstruieren.

Europa ist ein Friedensprojekt und eine Wirtschaftsgemeinschaft. Genügt Ihnen das nicht?

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse.
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse.

© Imago

Friedensprojekt ist die halbe Wahrheit. Die ganze ist: Frieden durch Überwindung des Nationalismus. Denn der Nationalismus ist der Aggressor, er hat in der Moderne zu den brutalsten Kriegen und größten Menschheitsverbrechen geführt. Die Gründergeneration des europäischen Projekts ist von dieser Erfahrung ausgegangen. Bei „Friedensprojekt“ allein denkt man ja, das könnte man auch anders haben – durch Friedensverträge oder Bündnisse. Das hat aber bekanntlich nichts genützt. Und „Wirtschaftsgemeinschaft“ ist auch nur die halbe Wahrheit, die ganze ist: Was benötigt wird, ist eine wirtschaftliche Verflechtung zur Verhinderung nationaler Sonderwege. Die Ökonomie ist bekanntlich die Basis. Keine Idee, kein politisches Projekt hat eine Chance, wenn sie nicht in der Basis verankert ist. Allerdings determiniert die europäische Idee nicht die Art des Wirtschaftens. Entscheidend ist die Verflechtung, aber das bedeutet nicht Verflechtung des Raubtierkapitalismus. Und drittens: Deutschland sollte nie wieder den Anspruch auf Führungsmacht in Europa stellen können. So, da haben Sie die Grundidee.

Verkörpert der EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker in Ihren Augen diese Idee?

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Barroso, der Wachs in der Raute von Frau Merkel war, ist Juncker noch ein wirklicher Europäer, ein Dinosaurier der europäischen Idee. Man muss politisch nicht mit ihm immer einer Meinung sein – aber es gibt diese Grundlage. Er weiß, worum es beim europäischen Projekt geht. Man muss nicht Spielberg heißen, um froh zu sein, dass in Europa Dinosaurier überlebt haben.

In Europa sind heute eher Euro-Pragmatiker wie Angela Merkel oder François Hollande am Werk. Trauern Sie der Generation von Helmut Kohl nach?

Ich bekomme Hautausschläge, wenn ich das höre: Pragmatiker wie Angela Merkel... Es waren diese Pragmatiker, die die Krise produziert haben. Und jetzt erwartet man, dass die selben Pragmatiker die Krise lösen? Das ist verrückt. Wo die Rettung versprochen wird, wächst die Gefahr. Das Problem ist: Die jetzige Generation der angeblich so pragmatischen politischen Eliten hat keine Ahnung mehr, was Europa bedeutet. Hollande könnte nie Mitterrands Satz „Le nationalisme, c’est la guerre“ frei heraus sagen, und Angela Merkel, ein Zwerg auf dem politischen Grabstein vom Europäer Helmut Kohl, könnte den Satz „Das Ziel ist die Überwindung der Nationen“ nicht einmal buchstabieren. Der Satz stammt von Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der Europäischen Kommission. Und so lange eine deutsche Kanzlerin oder ein deutscher Kanzler nicht sagen kann, was dem Deutschen Walter Hallstein klar war, so lange haben wir die Krise.

Was Menasse über die Griechenland-Krise denkt

Ungewisse Aussichten. Die Spekulationen über einen Austritt Griechenlands aus dem Euro reißen nicht ab.
Ungewisse Aussichten. Die Spekulationen über einen Austritt Griechenlands aus dem Euro reißen nicht ab.

© rtr

Apropos Krise: Bleibt Griechenland Euro-Mitglied?

Ganz sicher! Die Frage ist, wie lange sich deutsche Medien, die gegen „die Griechen“ hetzen, noch als aufgeklärte Medien bezeichnen können. Alleine die Wortwahl „die Griechen“ ist Ausdruck der nationalistischen, ja rassistischen Geisteshaltung, gegen die die EU gegründet wurde.

Sie teilen als Österreicher also nicht die deutsche Sicht auf die Griechenland-Krise?

Es gibt keine „österreichische“ und keine „deutsche Sicht“, es gibt sehr viele verschiedene Sehweisen. Die nationale ist auf jeden Fall die dümmste.

Aus deutscher Sicht kommt es einem Horrorszenario gleich, falls Griechenland die seit 2010 gewährten Kredite nicht zurückzahlen sollte. Verstehen Sie das?

Was bitte ist „deutsche Sicht“? Die Sicht der Deutschen Bank? Oder die Sicht eines Arbeitslosen in Thüringen, der von bayrischem Steuergeld alimentiert wird? Im Jahr 1922 hatte Österreich eine Finanzkrise, die mit der heutigen in Griechenland vergleichbar ist. Die Bedingungen, unter denen damals vom Völkerbund Finanzhilfe gewährt wurde, hatten Auswirkungen, die uns heute bekannt sein sollten. Menschen wurden in solches Elend gestoßen, dass sie dann völlig verblödet „Heil!“ riefen, als der Mörder kam. Aber ich kann die deutsche Regierung beruhigen: Österreich hat den Kredit von 1922 in den 70er Jahren unter einem sozialdemokratischen Kanzler zurückbezahlt. Dazwischen gab es aber Rauch und Trümmer, Mord und Vernichtung. Wer heute glaubt, er muss es so machen, mit diesen Bedingungen, sollte sofort in Den Haag vor Gericht!

Ist Brüssel heute das, was Wien im Habsburgerreich war? Oder liegt das Zentrum der EU in Wahrheit in Berlin?

Das multiethnische und vielsprachige Habsburgerreich wurde von Nationalisten in die Luft gesprengt. Keine der Nationen, die daraufhin gebildet wurden, hat danach nur einen einzigen Tag in größerer Freiheit oder größerem Wohlstand verbracht. Sie erlebten Kriege und totalitäre Systeme. Erst mit ihrem jeweiligen Beitritt in die EU ging es ihnen wieder besser. Ich bin wirklich kein Nostalgiker der Habsburger-Monarchie, aber dieses historische Faktum sollte uns zu denken geben. Und Berlin – das ist sicher nicht das Zentrum der EU. Berlin ist die Kommandozentrale der Verteidigung nationaler Interessen. Jean Monnet, der Wegbereiter der heutigen EU, schrieb, dass „nationale Interessen nichts anderes sind als die kurzsichtigen ökonomischen Interessen nationaler Eliten, deren Befriedigung die eigene Bevölkerung und die Bevölkerungen anderer Nationen in der Buchhaltung dieser Ökonomie zu Abschreibposten, im konkreten Leben zu Opfern macht“. Ich fände es gut, wenn das einmal in einer deutschen Zeitung zu lesen wäre.

In Großbritannien könnte die EU-feindliche Ukip-Partei bei den Wahlen im Mai zum Königsmacher werden. Was halten Sie vom Szenario eines „Brexit“, also eines Austritts Großbritanniens aus der EU?

Ein Austritt Großbritanniens wäre ein Glücksfall. Das Vereinigte Königreich macht bei Schengen nicht mit, macht beim Euro nicht mit, fährt auf der falschen Straßenseite und hat bis heute nicht das Dezimalsystem verstanden. Aber im Rat blockiert Großbritannien unausgesetzt die europäische Politik. „Rule Britannia!“ ist mit der Idee der EU nicht vereinbar. Ein Austritt wäre also die Beseitigung eines Hindernisses der wünschenswerten europäischen Entwicklung. Allerdings müsste man dann sofort Schottland in die EU einladen. Schottland ist mehrheitlich pro-europäisch, die Nationalisten sitzen in London. Ein Austritt des Euro- und Schengen-Lands Griechenland, also eines wirklichen Mitglieds, aber hätte dramatische Konsequenzen.

Ihr persönliches Europa, etwa im Austausch mit Schriftsteller-Kollegen, ist das ein ganz anderes als das, was uns tagtäglichen in den Fernsehnachrichten vorgeführt wird?

Wenn man von Enzensberger absieht, der sich auf die alten Tage noch zum Nationaldichter, also zum Zitate-Lieferant für deutsche Stammtische, promovieren will, sind die Schriftstellerkollegen in der Regel aus einem einfachen Grund weitsichtiger: Da kein Dichter, der bei Sinnen ist, den Anspruch hat, Nationalliteratur zu schreiben, sieht er die Welt natürlich anders, als es die nationalen Medien tun.

Wenn Sie Europa in ein Bild fassen müssten, womit würden Sie es eher vergleichen: mit einer unglücklichen Familie, mit einer Champions-League-Runde mit Siegern und Besiegten oder noch etwas ganz anderes?

Es gibt Labore, in denen nach Methoden zur Optimierung des Individuums geforscht wird, gegen die Zellalterung, gegen Krebs und so weiter. Europa ist das Labor, in dem an der Verwirklichung einer kühnen sozialen Idee experimentiert und gearbeitet wird: Alle freien Menschen können Brüder und Schwestern sein. Unabhängig von Sprache, Kultur, Mentalität, Religion, Geschlecht oder Ethnie, ohne ihre jeweiligen Vorzüge zu verlieren. Mein Bild von Europa: ein Labor, das erforscht, wie das Versprechen der Aufklärung endlich eingelöst werden kann.

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