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Politik: Europa ist sehenden Auges in die Krise geschlittert

Nach neun ereignisreichen Tagen im Kosovo zurückgekehrt, bin ich von der Berichtslage irritiert.Fast alles haben wir vor Ort anders und - klarer gesehen.

Nach neun ereignisreichen Tagen im Kosovo zurückgekehrt, bin ich von der Berichtslage irritiert.Fast alles haben wir vor Ort anders und - klarer gesehen.Alle hier reden von der UCK, die von der NATO während der Raumbouillet-Konferenz eine fatale Aufwertung bekam.Die UCK ist keine ernstzunehmende Kraft mehr im Kosovo.Sie kann von der serbischen Armee in keiner Beziehung als Gegner erkannt werden.Die serbische Armee nimmt die UCK auch nur noch als Vorwand, um ganze Dörfer und Landschaften wie 1998 in Schutt und Asche zu legen.

Eine bewaffnete Befreiungsbewegung hat ihre einzige Legitimation darin, daß sie die Bevölkerung zu schützen versucht.Das hat die UCK im Vorjahr nicht geschafft, sondern sich selbst im August/September ins Trockene gebracht und die Bevölkerung in die Wälder treiben lassen.Und jetzt schafft sie es auch nicht.Die UCK hat nicht einen Angriff auf ein Dorf verhindern, kein einziges Dorf sicher evakuieren können.Sie hat auch kein Depot der Armee oder einen der Tanks der Serben erobern können.Die OSZE machte im Januar den Fehler, ihre ehrgeizige Mission zu retten durch die Vertuschung der Tatsachen, die jedes Beobachter-Team und jede Kolonne mitbekam.Die serbische Armee war seit dem Massaker von Racak am 16.Januar nicht einmal mehr zur kosmetischen Akzeptanz des Holbrooke-Abkommens bereit.Lange schon gab es keine Gefechte, keinen Kriege zwischen Kriegsparteien, sondern nur noch einen Zerstörungsfeldzug ohne Gegner.Ich selbst habe keine UCK-Kämpfer gesehen in den letzten sechs Tagen.

Europa ist sehenden Auges (oder schielend) in die Nicht-Erfüllung des Vertrages hineingeschlittert.Eine beherzte OSZE hätte spätestens Mitte Januar 1999 schreien und mit Abzug drohen müssen.So aber waren die tapferen Beobachter nur noch Objekt und Medium der total paralysierten EU- und NATO-Politik, die sich an den eigenen Versprechungen entlanghangelt und dann eigene Hermeneutik-Stäbe einsetzt, die untersuchen sollen, ob die Stunde für die Einlösung der Versprechen gekommen ist oder nicht.Milosevic darf derweil Dörfer und Schulen zerstören und Moscheen schleifen.Er hat nichts zu befürchten, wenn er seine Armee und Spezialpolizei Depots aufreißen und Nahrung stehlen läßt, wie etwa das Depot der Italiener (Intersos) auf dem Weg nach Podujevo oder wie vor vier Wochen 100 Tonnen Mehl von Cap Anamur, die mit dem Geld deutscher Spender gekauft worden waren.

Der höchste Ausdruck der Heuchelei: Wenn US-Verteidigungsminister William Cohen am 1.März zu Milosevic sagt, daß massive Artillerieangriffe der Serben auf unschuldige Dörfler einen "Angriff der NATO" herausfordern würde.Wieder sind dann unsere Diplomatie-Hermeneuten unterwegs und prüfen, von wann an ein Angriff auf "unschuldige Dorfbewohner", Frauen und Kinder, massiv ist, bis wohin sich die Massivität in Grenzen hält.Die Kosovo-Bevölkerung hat sich darauf einen Witzreim gemacht: "One house a day keeps NATO away", hieß es im Februar.Im März dagegen: "One village a day keeps NATO away."

RUPERT NEUDECK

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