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Politik: Europa, mach mal Pause

Von Christoph von Marschall

Was für ein Niedergang. Europas Einigung galt lange Zeit als das Allheilmittel. Sie war die Antwort auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, auf Kriege und nationale Rivalitäten. Und das Mittel zur Überwindung der Teilung des Kontinents – durch die Osterweiterung heute vor einem Jahr. Europa war die Verheißung von Frieden und sanfter Großmacht in demokratischer Mitbestimmung.

Wie naiv das heute klingt. Wenn die Bürger EU hören, wehren sie genervt ab. Die Kommission in Brüssel gilt als undurchsichtiges Bürokratiemammut, das Parlament in Straßburg als bedeutungslose Quasselbude. Mit der Erweiterung verbinden die Westeuropäer die Bedrohung ihres Wohlstands. Die Verfassung ist in Frankreich stark umstritten, in England sowieso, und die Deutschen werden nicht gefragt. Ist EUEuropa eine Zwangsveranstaltung ohne Legitimation, wie selbst manche Politiker klagen?

Das ist wahr – und zugleich ziemlich verlogen. Die Politiker, die diesen Niedergang bedauern und nun um Mehrheiten für die Verfassungsreferenden kämpfen, haben die Delegitimierung mit herbeigeführt. Sie betreiben ein zynisches Doppelspiel. Ob Erweiterung oder Verfassung, Umweltrichtlinie oder Agrarmarkt: In Brüssel haben sie den Entscheidungen zugestimmt, die sie daheim attackieren, weil angeblich nationale Interessen zu wenig berücksichtigt werden.

Europa ist auch in der Krise, weil seine Bürger bei dem Tempo der letzten 15 Jahre nicht mehr mitkommen. Sie müssen die vielen Veränderungen erst mal verdauen: Binnenmarkt, politische Union, Abbau der Grenzkontrollen, die Erweiterungen um Skandinavien und Österreich und dann nach Osten, der Euro, die Verfassung. Es ist ja wahr, die EU hat den Menschen viele Verbesserungen gebracht, vom einfachen Reisen ohne Geldumtausch bis zum Verbraucherschutz. Aber erstens gewöhnt man sich daran schnell. Und zweitens gelangt diese Politik greifbarer Fortschritte an ihr Ende. Was sie nach dem Krieg erhofften, ist erreicht, der Sinn weiterer Integration abstrakt. Amerika Paroli bieten – das möchten gewiss viele, aber den Preis wollen sie nicht zahlen: noch mehr vereinheitlichen, noch mehr Kompetenzen nach Brüssel abgeben, immer weiter erweitern. Der Nationalstaat bleibt ihr emotionaler Bezugspunkt, Brüssel innerlich fern und die Türkei ziemlich fremd.

Das Vorwärtsstürmen – immer tiefer, immer weiter – hat als Erfolgsrezept ausgedient. Die EU darf jetzt mal Pause machen, bis ihre Bürger wieder mitkommen. Dafür muss die Debatte über Europa ehrlicher werden. Erweiterung und Verfassung sind besser als ihr Ruf. Ursache des Lohn- und Steuergefälles, das die Deutschen so schmerzt, ist nicht die Erweiterung, sondern der neue Wettbewerb nach dem Untergang des Kommunismus. Die Integration macht die Folgen erst erträglich. Das erste Jahr mit 25 EU-Mitgliedern ist erstaunlich störungsfrei verlaufen. Und die Verfassung ist ein Gewinn an Transparenz – weil sie die vielen europäischen Verträge in einem Dokument zusammenfasst. Sie ist zudem das Ergebnis von anderthalb Jahren ausführlicher Gespräche im Verfassungskonvent; dort waren auch jene vertreten, die jetzt gegen sie stänkern, ohne ein neues Argument zu nennen.

Aber vielleicht muss die Verfassung scheitern – damit der Schock die Politiker zwingt, ehrlich über Europa zu reden.

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