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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erinnern nahe der nordfranzösischen Stadt Compiègne an das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren.

© Kay Nietfeld/dpa

Europa muss sich rechtfertigen: Die Sorge vor Krieg reicht nicht als Begründung für die EU

Die sakrale Erzählung vom Europa, das die Menschen vom Krieg erlöst, ist tückisch. Gut, dass sich gerade eine neue verbreitet. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Vergangene Woche haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron den Vertrag von Aachen unterzeichnet. Er soll nach dem Willen der beiden Länder Ausgangspunkt einer engeren deutsch-französischen Zusammenarbeit zum Wohle Europas sein. Es seien schwierige Zeiten, sagte die Kanzlerin in ihrer Rede zur Begründung. Überall in der Welt werde vermeintlich „Selbstverständliches infrage gestellt“, vor allem der Multilateralismus sei in der Krise. Emmanuel Macron zitierte Digitalisierung, Klimawandel, Migration, Terrorismus, „internationale Veränderungen“ und sagte, deshalb müssten Deutschland und Frankreich darauf hinarbeiten, dass Europa „wahre Souveränität“ erlange – um sich in der Welt zu behaupten.

Wenige Tage davor ist in Mainz der österreichische Schriftsteller Robert Menasse unter lautem Widerspruch der rheinland-pfälzischen Opposition und vieler Feuilletons mit der Carl-Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet worden. Menasse ist frisch überführt, seine Vision von Europa mit einem erfundenen Zitat des ersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein garniert zu haben. Menasse und die Aktivistin und Publizistin Ulrike Guérot, mit der Menasse häufig gemeinsam veröffentlicht, zitierten Hallstein immer wieder mit dem Satz: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“ Außerdem verlegte Menasse eine Rede Hallsteins von 1958 nach Auschwitz, sowohl in seinem EU-Roman „Die Hauptstadt“ als auch in nichtfiktionalen Texten. Beides, das Zitat und der Ort, sind fester Bestandteil der Denkwelt Menasses und Guérots: Ihrer Ansicht nach müssen Europas Nationalstaaten vollständig verschwinden und Europa eine res publica werden, eine Europäische Republik. Erst dann, so sieht es Menasse, seien die Konsequenzen aus Auschwitz tatsächlich gezogen.

Robert Menasse erzählt Europa als sakrale Erlösungsgeschichte - doch dieses Narrativ steht unter Druck

Über beides, die Unterzeichnung des Aachener Vertrages und die Causa Menasse, ist viel geschrieben worden in den vergangenen Tagen. Und so stehen im deutschen Debattenraum plötzlich diese zwei sehr unterschiedlichen Arten, die Europäische Union zu erzählen, zu begründen und in die Zukunft zu denken direkt nebeneinander: Zwei europäische Narrative, zwei Rechtfertigungen für die Existenz der Europäischen Union.

Es ist kein zufälliges Aufeinandertreffen und es ist auch kein Zufall, dass Robert Menasse und Ulrike Guérot gewichtige Kronzeugen für ihr europäisches Narrativ erfinden. Ihre Art, die Europäische Union zu erzählen und zu begründen, steht unter Druck. Die Debatte um Menasse ist auch Ausdruck eines Ringens zwischen zwei Rechtfertigungen für Europa. Die Art und Weise, wie sich Deutschland und Frankreich Europa erzählen und wie sie Europa rechtfertigen, wandelt sich derzeit. Robert Menasse und Ulrike Guérot stehen für die Erzählung vom europäischen Friedensprojekt. Ihr Europa rechtfertigt sich dadurch, die Menschen vom Krieg erlöst zu haben. Dagegen steht mehr und mehr eine funktionale, nach außen und auf die Zukunft gerichtete Erzählung: Die EU soll in unsicheren Zeiten das Überleben ihrer Mitglieder sichern.

Anna Sauerbrey ist Mitglied der Chefredaktion des Tagesspiegels und leitet das Ressort Causa/Meinung.
Anna Sauerbrey ist Mitglied der Chefredaktion des Tagesspiegels und leitet das Ressort Causa/Meinung.

© Kai-Uwe Heinrich/Tsp

Robert Menasse und Ulrike Guérot verstehen sich als unbequeme Utopisten, an deren Visionen sich die Welt reiben kann, um sich weiterzuentwickeln. In jenem Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 2013, um den sich die Debatte nun zum Teil dreht, weil das falsche Hallstein-Zitat darin auftaucht, schreiben sie: „Ach, die Träumer! Sie waren und sie sind die wahren Realisten, ihnen verdanken wir die schönsten Ideen und die Grundlagen des modernen Europas (…).“ Ihre Utopie geht so: Nationalisten und Realpolitiker seien es gewesen, die in den beiden Weltkriegen „den Kontinent in Schutt und Asche gelegt“ hätten. Die Konsequenz daraus, die Gründung der Vorläuferorganisationen der Europäischen Union sei den Zeitgenossen auch zunächst utopisch erschienen, aber letztlich die vernünftige Konsequenz aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gewesen. Schon die Gründerväter, so behaupten die Autoren, etwa Walter Hallstein, hätten aber keinen Staatenbund, sondern die vollständige Überwindung der europäischen Nationalstaaten im Sinn gehabt, eine wahre Europäische Republik. Auf das Ziel einer Republik müsse man sich nun wieder besinnen – auf den Willen der Gründerväter.

Politiker beziehen sich in Europa-Reden immer weniger auf die Weltkriege - man hört sogar einen gewissen Überdruss

Der Historiker Heinrich August Winkler hat gezeigt, dass Hallstein keineswegs eine Europäische Republik im Sinn hatte. Schon 2017, als Menasse mit dem Buchpreis geehrt wurde, griff er zur Feder und korrigierte im „Spiegel“ das Bild, das der Schriftsteller zeichnete. Hallstein habe sich sogar gegen die Auflösung der Nationalstaaten ausgesprochen, so Winkler. Im Tagesspiegel zeigte der Germanist Paul Michael Lützeler kürzlich, dass sowohl Hallstein als auch der europäische Vordenker Jean Monnet vielmehr die „Vereinigten Staaten von Europa“ befürworteten, also einen Bund von Nationalstaaten, was Menasse ablehnt. Menasse ficht das wenig an. Ja, das Zitat gebe es wörtlich so nicht, hat er mittlerweile eingeräumt. Sinngemäß aber habe er Hallstein richtig verwendet.

Dass Menasse es mit Realität und Fiktionalität nicht so genau nimmt, ist wenig überraschend. Seine Variante der europäischen Gründungsgeschichte ist ohnehin eher Mythos als Historie, ja mehr noch. Sie ist eine sakrale Erzählung.

Die Geschichte vom Europa, das aus den Ruinen entsteht, ist eine christliche Erlösungsgeschichte. Durch gegenseitiges Vergeben werden die europäischen Nationalstaaten befreit vom Bösen des Krieges. Die europäische Einigung ist in dieser Geschichte ein transzendierendes Moment, durch sie entsteht etwas Höheres, Über-Menschliches, wodurch auch der entstandene Bund geheiligt wird. Sie wieder aufzulösen wäre also Blasphemie, würde die Erlösung rückgängig machen und die Welt in den Zustand von Sünde und Krieg zurückwerfen. Die Erinnerung an Auschwitz und an die Gräuel des Krieges wird so zum sakralen Ritual, das den Zustand der Erlösung garantiert und fortschreibt. So stellt es sich etwa auch Menasses Protagonist, der EU-Bedienstete Martin Susman in „Die Hauptstadt“ vor: Zum „Big Jubilee“, dem 50. Geburtstag der Kommission, also der supranationalen EU-Institution, träumt er von einem rituell-sakralen Trauermarsch für die Toten des Holocaust in Brüssel. Am Ende verhindert der Europäische Rat, also das Gremium der Nationalstaaten, sein Konzept. Beim Lesen konnte man das für eine fein-sarkastische Überspitzung halten, die das Erlösermotiv ins Absurde zieht – doch offenbar bleibt der Aktivist Menasse hinter dem Literaten Menasse zurück. Für ihn bleibt die Erlösung unvollständig, die vermeintliche Rückkehr zur Idee der Gründerväter Aufgabe messianischen Handelns.

Wenn sich die Gegenwart ändert, ändert sich auch die Erinnerung

Das kulturelle Gedächtnis, die Art und Weise wie sich Gesellschaften erinnern und sich ihre eigene Geschichte erzählen, ist immer eine Konstruktion – und harte Arbeit. Das ist das Credo der Anglistin Aleida Assmann und des Ägyptologen Jan Assmann, die 2018 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurden. Kulturelles Gedächtnis, so schreibt Aleida Assmann, ist stets eine Kombination aus zufälligem Vergessen, gezieltem Vergessen und gezieltem Erinnern. Dabei ist das Vergessen das Normale. Erinnern hingegen bedeutet „in aller Regel eine Anstrengung, eine Auflehnung, ein Veto gegen die Zeit und den Lauf der Dinge“. Wofür man sich derart anstrengt, wird von einem „sozialen Rahmen“ vorgegeben. Dieser Rahmen wirke „wie ein Filter, der die Auswahl der Erinnerungen bestimmt“.

Der „soziale Rahmen“, in dem Europa erinnert wird, ändert sich gerade rasant – sicher auch einer der Gründe, weshalb die Assmanns gerade wieder verstärkt gelesen und geehrt werden. Die neue Rechte stellt die Erinnerungstradition infrage. Aber auch die äußeren Gegebenheiten ändern sich und wandeln den Rahmen der deutschen und europäischen Erinnerungspolitik. Die Aufzählung der neuen Herausforderungen von Trump bis Terrorismus, die diesen neuen Rahmen bestimmen, sind fast immer die gleichen, etwa auch in Macrons und Merkels Reden in Aachen in der vergangenen Woche. Ausgehend von Populismus, Digitalisierung, dem Zusammenbruch der regelbasierten Weltordnung, der neuen Großmachtkonkurrenz zwischen China und den USA, erzählt sich Europa anders.

Emmanuel Macron stellt dem sakralen Narrativ ein säkulares, gegenwärtiges gegenüber

Im Vordergrund steht mittlerweile das säkulare Narrativ, das vor allem mit Emmanuel Macron verbunden ist. Kern ist nicht die Heilung von vergangenen Kriegen, sondern der Nutzen, den Europa seinen Mitgliedstaaten und seinen Bürgern in der Zukunft bietet. Macron fordert „wahre Souveränität“ für Europa und ein Europa, das seine Bürger beschützt – l'Europe qui protège. Martin Schulz sprach 2017 von einer „Lebensversicherung“, von Europa als Mittel, in der Globalisierung „Gestaltungsmacht“ zurückzugewinnen. „Weltpolitikfähigkeit“, hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das einmal genannt.

Teile des sakralen Europa-Narrativs finden sich natürlich immer noch – zumal sich im vergangenen Jahr das Ende des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal jährte. Emmanuel Macron schöpfte in seiner Rede am 18. November 2018 im Deutschen Bundestag tief aus dem Vokabular der Metaphysik. Er sprach von den „blutrünstigen Dämonen des Nationalismus“ und den „Klauen des Infernos“, von einer „Wiederauferstehung“ Deutschlands, bei der Frankreich „eine Rolle“ gespielt habe (indem es vergab).

Doch zunehmend hört man auch einen regelrechten Überdruss daran. Es sei Zeit für eine neue „Phase“, sagte Macron in Aachen. Es sei richtig, dass die Streitigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland „Feuer und Blut über die Welt gebracht“ hätten und dass es die Pflicht der beiden Länder gewesen sei, dem endgültig ein Ende zu setzen. Aber: „C’est chose faite – Das haben wir erreicht, das ist abgeschlossen.“ Und Angela Merkel sagte im Mai 2018 bei der Verleihung des Karlspreises: „Europa muss auch immer mehr sein als die gemeinsame Geschichte, als die Überwindung früherer Gegensätze und Kriege auf unserem Kontinent.“ Es brauche vielmehr „sehr konkrete Antworten“ auf „die großen Fragen der Gegenwart und der Zukunft“. Die Gräber des Ersten und Zweiten Weltkrieges sind in diesen säkularen Reden nicht viel mehr als ein eiliger Kotau vor der Geschichte, ein mehr oder weniger lästiger Vollzug jenes Rituals, das Menasse und Guérot ins Zentrum ihrer Europareligion stellen.

Sakrale Erzählungen sind nicht verhandelbar, sie immunisieren sich selbst gegen jede Kritik

Das ist gut so. Denn Narrative sind nicht nur Erzählungen. Sie stiften nicht nur Identität. Die Art und Weise, wie man sich die eigene Geschichte erzählt, ist auch Rechtfertigung, sie dient der Legitimierung politischer Institutionen und der Begründung politischen Handelns.

Sakrale Narrative aber sind zwar wirkungsvolle, aber in Wahrheit schwache Rechtfertigungen. Traditionell sind sie Teil von Rechtfertigungsstrategien totalitärer oder absolutistischer Herrschaft, aus gutem Grund. Sakrale Narrative killen jede Debatte um das richtige politische Handeln. Sie entbinden regelrecht von der Notwendigkeit einer echten Begründung der Legitimität von Herrschaft, Ideen oder Handeln, sei sie theoretisch oder auf den Nutzen gerichtet. In einer sakralen Erzählung wird jede Gegenmeinung zur Blasphemie, jede Kritik zur Gefahr für die Seele, jeder Kritiker zum Feind der Gemeinschaft der Seligen. Sakrale Begründungen immunisieren sich selbst und verhindern eine offene Debatte, wie sie in der Demokratie normal sein sollte. Sie entbinden vom Argument – weshalb Menasse seit Jahren kein Problem damit hat, sich beharrlich der Frage zu verweigern, wie seine Europäische Republik denn institutionell organisiert und politisch umgesetzt werden könnte.

Wir erleben eine Säkularisierung Europas, und das ist gut so

Deshalb ist es richtig, dass das sakrale Europa-Narrativ zunehmend an Kraft und Raum verliert. Wir erleben eine Säkularisierung Europas, und das ist gut so. Europa braucht gerade jetzt echte Legitimierung. Das Europaparlament ist voller Europa-Skeptiker und Populisten halten der EU bei jeder Gelegenheit vor, sie sei ja auch nicht besser als ihre „illiberalen Demokratien“.

Ob am Ende mehr gemeinsame Verteidigung, ein gemeinsamer europäischer Haushalt oder ein Ausbau der Währungsunion wirklich Fortschritte bringt, kann und sollte diskutiert werden – in einer offenen, säkularen Debatte, die fragt, welche Ziele richtig sind, mit welchen Mitteln man sie erreichen kann, ob sie ausreichend Zustimmung in der Bevölkerung finden und verfassungsmäßig legitim sind. Es sollte nicht gefragt werden, ob sie einer sakralen Utopie entsprechen oder nicht.

Eine säkulare Erzählung von Europa setzt die europäische Politik dem Druck aus, sich in der Gegenwart mit konkreter Politik, mit Erfolgen und spürbaren Veränderungen und Verbesserungen gegenüber den Wählern zu rechtfertigen – und das ist so wichtig wie nie.

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