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Eine britische Flagge im EU-Parlament.

© dpa

Europa nach dem Brexit: Für einige weniger, für andere mehr

Es muss nicht jeder alles machen in der EU. Nach dem Brexit der Briten wird sich in Europa ein kleiner Kreis herausbilden, der enger kooperiert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wer sieht und hört, mit welcher Leidenschaft Menschen aus vielen Ländern bei der Fußball-Europameisterschaft die Nationalhymnen singen, begreift: Charles de Gaulle mit seiner 1962 propagierten Vision von einem „Europa der Vaterländer“ ist der Realität des Jahres 2016 näher als der kühne Entwurf einer alles Nationale überwindenden Europäischen Union. Es sind ja keine alternden Schwarmgeister, die da zahnlos die Lieder vergangener Zeiten nachbrummen, es sind Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, die sich von der Begeisterung für „ihre“ Mannschaft mitreißen lassen.

Verfassungspatriotismus war auch aus Last der Geschichte geboren

Wer also heute über Ursachen des Brexits und der nicht erst dadurch manifest gewordenen Krise der Europäischen Union nachdenkt, sollte die Bilder aus Marseille, Paris, Bordeaux, Lille und Lyon vor Augen haben. 2006, bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land, war ja auch den Deutschen bewusst geworden, dass Nationalgefühl keine schäbige Regung ist. Der Verfassungspatriotismus von Sternberger und Habermas, so stabilisierend er auch gewesen sein mag, war eben doch auch aus der Teilung des Landes und der Last der Geschichte geboren.

Eigentlich muss man ja auch nicht bei einem Fußballspiel zuschauen, um zu erkennen, dass in einer immer komplexeren, permanent von Krisen und Terrorakten geschüttelten Welt schwindender Gewissheiten, die Rückbesinnung auf den überschaubaren und vergleichsweise vertrauten Heimat-Raum eine ganz normale Reaktion ist. Die Deutschen haben das vor ziemlich genau 200 Jahren, in der Epoche zwischen dem Ende des Wiener Kongresses 1815 und dem Beginn (und der Niederschlagung) der bürgerlichen Revolution 1848 schon einmal erlebt, damals den Rückzug ins Private als Antwort auf die Repression – das Biedermeier.

Mit der damaligen Weltflucht kann man die heutige Rückbesinnung auf die Nation als angemessenen Rahmen für die meisten politischen Entscheidungen nur bedingt vergleichen, aber Lehren daraus ziehen darf man schon. Dass die Europäische Union sich mit der – weltpolitisch richtigen – Entscheidung der Osterweiterung 2004 überdehnt hat, ist heute wohl allen Akteuren bewusst. Freilich stellt keiner der Kritiker am Ist-Zustand, politische Außenseiter ausgenommen, die Entscheidung selbst infrage, allenfalls das Tempo der Integration. Jeder kann sich, angesichts des russischen Vorgehens in der Ukraine, die Panik ausmalen, die die Menschen in Polen, Tschechien, der Slowakei und dem Baltikum heute erfassen würde, wenn diese Länder nicht unter dem Schirm der EU (und mehr noch der Nato) verlässlichen Schutz gefunden hätten.

In der entscheidenden Frage ist dieses Gremium jämmerlich gescheitert

Wie macht man Europa dennoch wieder handlungsfähig? Die Idee von Parlamentspräsident Martin Schulz, in der „FAZ“ entworfen, man müsse nun die EU-Kommission zu einer europäischen Regierung umbauen, „der parlamentarischen Kontrolle des Europaparlamentes und einer zweiten Kammer, bestehend aus Vertretern der Mitgliedsstaaten unterworfen“, ist schon angesichts der Tatsache nicht umsetzbar, dass dazu der Vertrag von Lissabon in wesentlichen Elementen geändert werden müsste. Dazu aber bedürfte es nicht nur der Zustimmung von 28 nationalen Parlamenten, sondern in Einzelfällen auch noch eines positiven Ergebnisses von Volksbefragungen.

Die Kommission als supranationale Exekutive mit neuen Vollmachten wäre wohl auch das Letzte, was in dieser Phase des Zweifelns an Europa Zustimmung in den Mitgliedsnationen finden würde. Wer allerdings, wie Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“, die Kommission zum potenziellen Blockierer abstempelt und den intergouvernementalen Ansatz lobt, malt in Rosa, was in der Realität eher grau ist. Intergouvernemental, zwischen den Regierungen, versuchen die Staats- und Regierungschefs regelmäßig, Kompromisse zwischen divergierenden Meinungen zu finden. In der entscheidenden Frage der Verteilung der Flüchtlinge aber ist dieses Gremium jämmerlich gescheitert.

In unserer globalen Welt ist der Rückzug in ein Kiezdenken im Grunde politischer Selbstmord. Der Satz "nur gemeinsam sind wir stark" ist richtig, wird aber mangels allgemeiner, aber auch politischer Bildung in der EU nicht verstanden.

schreibt NutzerIn hadi

Tatsächlich müssen bei der Betrachtung der Realität alle Akteure einen Schritt zurücktreten, um mehr Überblick zu gewinnen. Sie werden dann zu dem Schluss kommen, dass einige bereit sind, zum Beispiel in der Finanz- und Wirtschaftspolitik enger zu kooperieren, ohne ihre Souveränität aufzugeben. Andere werden dabei nicht mitmachen wollen – sie sollen es lassen. Im engeren Kreis wird sich eine Arbeits- und Verantwortungsteilung zwischen Kommission, Parlament und nationalen Regierungen herausbilden, für die man keinen neuen EU-Vertrag braucht. Einen schönen Termin dafür gibt es schon: Am 25. März 2017 wird der 60. Geburtstag der Römischen Verträge gefeiert, mit denen (fast) alles anfing in Europas Union.

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