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Europa: Nach den Sternen greifen

Die Bürger in der EU sind vor allem durch ihre gemeinsamen Werte miteinander verbunden, doch die kulturellen Unterschiede bleiben erhalten.

Im Film „L'auberge espagnole“ des französischen Regisseurs Cédric Klapisch gibt es eine wunderbare Szene, die viel sagt über Europa, seine Menschen und seine Missverständnisse. Ein Großteil des Films spielt in einer WG europäischer Studenten in Barcelona, und dort teilen sich auch ein deutscher und ein italienischer Student ein Zimmer. Der Italiener ist ausgeflogen, dafür sitzt der Deutsche über seinem Marketing-Lehrbuch. Fein säuberlich unterstreicht er mit einem Lineal die wichtigsten Passagen, eifrig streicht er einzelne Textteile mit einem orangen und gelben Marker an.

Da kommt WG-Genosse William ins Zimmer, ein junger Mann aus England. Er langweilt sich, doch der fleißige deutsche Student hat keine Zeit für ihn. William will sich aber nicht abwimmeln lassen. Er setzt sich neben den Deutschen und fängt an zu sticheln. Schön aufgeräumt, die Zimmerecke des Deutschen, bemerkt er. Wie in Deutschland. Weil der deutsche Student nicht darauf reagiert, holt William die Nazi-Keule raus: „Also, Adolf Hitler hat doch mit diesem Ding in Deutschland angefangen, mit den Bussen und Zügen und solchen Sachen.“ Hinterher entschuldigt er sich: „Es sollte ein Witz sein.“ Aber da hat er den deutschen Studenten schon zutiefst verletzt.

Cédric Klapisch geht in seinem Film, der die Geschichte eines Erasmus-Studenten in Barcelona erzählt, spielerisch mit den europäischen Klischees um. Und doch kommt dort auch das Doppelbödige an der täglichen Europa-Erfahrung zum Vorschein: Der Urlaub im europäischen Ausland ist schon lange eine Selbstverständlichkeit. Das Studium jenseits der Grenzen hat in den letzten beiden Jahrzehnten, nicht zuletzt dank des Erasmus-Programms, an Bedeutung gewonnen. Die EU bietet den entscheidenden Marktplatz für deutsche Firmen, auch für kleinere und mittlere Unternehmen. Und dennoch steht diese alltägliche Erfahrung auf einem Grund, den ein großer Teil der Bevölkerung inzwischen schon nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Es ist die Erfahrung eines furchtbaren Krieges, die auch zu einem engeren Zusammenschluss der europäischen Staaten führte.

Es gibt verschiedene Sichtweisen auf die Europäische Union. Die Generation der 75-Jährigen hat den Zweiten Weltkrieg noch bewusst miterlebt und nahm die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor 50 Jahren wie ein Geschenk wahr. Die Generation der 50-Jährigen wurde, wenn sie in Westeuropa aufwuchs, in einer Zeit wirtschaftlichen Wohlstands geboren; der Kalte Krieg prägte ihr Weltbild. Als die Generation der 25-Jährigen geboren wurde, zeigten sich bereits die ersten Risse im System der sowjetischen Vorherrschaft im Ostblock. In dieser Beilage schreiben 100 Bürger aus den 27 EU-Staaten, was sie über die EU denken – jeweils Vertreter aus der Generation der 75-, 50- und 25-Jährigen. Darüber hinaus sind bei manchen Ländern weitere Autoren vertreten, die nicht eingeordnet werden.

Die Texte, an diesem Sonntag auch im Konzerthaus am Gendarmenmarkt zu hören, sind Teil der Kulturveranstaltung „Europa – der blaue Stern“ von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zum Abschluss der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am Ende dieses Monats.

Zwangsläufig bieten die Texte insgesamt kein kohärentes Bild von „der“ Identität Europas – wie sollten sie auch? Der englische Schriftsteller John le Carré versteht Europa – das wird in seinem Beitrag deutlich – als Möglichkeit, einen Gegenentwurf zum „Amerika des George W. Bush“ zu liefern. Miroslav Kusý, der erste frei gewählte Rektor der Comenius-Universität im slowakischen Bratislava, hat hingegen sein Europa-Bild in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion geschärft. Kusý musste ins Gefängnis, weil er sich 1968 am Prager Frühling beteiligte. Auch wenn die 100 Autoren aus ganz unterschiedlichen Perspektiven schreiben, so gibt es doch einige Schlüsselwörter, die in etlichen Texten auftauchen. Sie kennzeichnen die europäischen Grundwerte: Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Solidarität. Die äußere Grenze der EU mag unklar sein – aber es scheint doch Einigkeit darüber zu herrschen, was die Gemeinschaft zusammenhält.

In den vergangenen knapp sechs Monaten war das blau-gelbe Europa-Logo etwas öfter als sonst in den Zeitungsspalten und Fernsehnachrichten zu sehen. Es ging während der deutschen EU-Präsidentschaft um zahlreiche Themen – Klimaschutz, Energieversorgung, Russland. Am Ende der kommenden Woche wird sich beim Gipfel in Brüssel entscheiden, ob die EU die Krise überwinden kann, die durch die Ablehnung des Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden vor zwei Jahren entstanden ist. Wieder werden sie streiten – Polen, Deutsche, Briten, Franzosen und all die anderen. Jeder in seiner eigenen Sprache, Missverständnisse nicht ausgeschlossen. Die EU ist stark genug, um diesen Streit auszuhalten. Der niederländische Architekt Rem Koolhaas formuliert es so: „Unser Babel funktioniert.“

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