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Politik: Europa spielt auf Zeit

Von Albrecht Meier

Vor einem Jahr haben die Franzosen in einem Referendum die EU-Verfassung abgelehnt. Seither befindet sich Europa in einer Denkpause. Braucht die Europäische Union überhaupt eine Verfassung? Sind Europas Bürger nicht viel eher daran interessiert, dass es in der EU genügend Jobs gibt, dass sie vor Terror geschützt sind und dass ihnen die EU auch praktischen Mehrwert bietet – und sei es bei so profanen Dingen wie billigen Handy-Gesprächen im Ausland? EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat diese Fragen aufgeworfen. Europas Politiker haben darauf noch keine schlüssige Antwort gefunden. Sie stehen der Verfassungskrise weiter ratlos gegenüber.

Inzwischen wächst allerdings die Gefahr, dass während der Denkpause auch das Projekt der EU-Verfassung klammheimlich beerdigt wird. Am Wochenende dachten die EU-Außenminister in einem Augustinerkloster bei Wien noch einmal ganz intensiv nach – um vor allem festzustellen, dass sie keinen gemeinsamen Ausweg aus der Krise wissen. Einige Staaten, darunter Deutschland und Spanien, wollen an dem Verfassungstext festhalten. Frankreichs Politiker hingegen sind seit Monaten mit anderem beschäftigt: mit Vorstadt-Gewalt, Jugendprotesten, Affären und vor allem mit sich selbst – denn schließlich wird hier im kommenden Frühjahr ein neuer Präsident gewählt. Echte Impulse für die EU-Verfassung sind aus Paris also vor Mitte des kommenden Jahres nicht zu erwarten. Gleiches gilt für die Niederlande, wo der Vertragstext vor einem Jahr wenige Tage nach dem französischen „Non“ ebenfalls in einem Referendum durchfiel. Aus London kommt die Bitte, in puncto Verfassung nichts zu überstürzen – was eine freundliche Umschreibung für die britische Sichtweise ist, das Papier sei seit dem doppelten „Nein“ in Frankreich und in den Niederlanden nichts mehr wert.

Weil den meisten Politikern in Europa derzeit die Kraft fehlt, den leidigen Verfassungstext überhaupt wieder auf die Agenda zu setzen, soll die Denkpause jetzt einfach um ein Jahr bis zum Sommer 2007 verlängert werden. Nach den Wahlen in Frankreich und in den Niederlanden sieht man weiter. Europa spielt auf Zeit. Dies kann aber kein Ersatz sein für eine klare politische Aussage darüber, wie es mit dem politischen Einigungsprozess weitergehen soll. Ein europäischer Außenminister, einfachere Entscheidungsmechanismen in Brüssel, weniger Vetorechte für die Nationalstaaten und nicht zuletzt größere Rechte für die nationalen Parlamente – all diese Elemente stammen aus der EU-Verfassung. Für ein zukunftsfähiges Europa bleiben sie unverzichtbar. Die Außenminister ließen bei ihrem Treffen am Wochenende ein eindeutiges Bekenntnis zu diesen zentralen Punkten des Vertragstextes vermissen.

Der Kleinmut mag in der Angst vor den Wählern begründet sein, denn auch ein Jahr nach der Ablehnung des Vertragstextes in Frankreich fehlt der Politik in Europa ein Rezept, um die Kluft zwischen „Brüssel“ und „den Bürgern“ zu überwinden. Würde heute in Frankreich erneut über die EU-Verfassung abgestimmt – das Ergebnis fiele wohl genauso aus wie vor einem Jahr. Europa steht bei den Bürgern derzeit nicht so hoch im Kurs, wie der historische Rückblick es erwarten ließe, hat Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer Regierungserklärung zur Europapolitik im Bundestag gesagt. Man möchte hinzufügen: Die EU braucht aber auch Politiker, denen man abnimmt, dass sie von der Idee der europäischen Einigung wirklich überzeugt sind.

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