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Syrische Flüchtlinge warten darauf, die Grenze nach Mazedonien zu überqueren.

© Reuters

Europa und die Flüchtlinge: Europa kann an nationalem Egoismus scheitern

Die Bürger wollen, dass Europa den Herausforderungen in der Flüchtlingskrise gerecht wird. Doch eine EU-Regelung droht an nationalen Egoismen zu scheitern. Eine Analyse.

Es gibt einen wunderbaren Film des französischen Regisseurs Cédric Klapisch mit dem Titel „L’auberge espagnole“. Es ist ein Film, der von der Freundschaft zwischen jungen Europäern handelt – darunter ein Franzose, eine Britin und ein Deutscher, die sich für ein Jahr als Auslandsstudenten eine „spanische Herberge“ in Barcelona teilen.

Der Film entstand 2002, also in einer Zeit, als die EU noch 15 Mitgliedstaaten hatte und die Osteuropäer noch nicht dabei waren. Es gab bereits den Euro, aber noch keine Euro-Krise, von den blutigen Auseinandersetzungen rings um die EU von der Ukraine über den Nahen Osten bis nach Nordafrika ganz zu schweigen. Zwar atmet die Komödie von Cédric Klapisch auch heute noch den Geist der Leichtigkeit und der europäischen Völkerverständigung. Sie erzählt von den Klischees nationaler Eigenarten, von streberhaften Deutschen und von unzufriedenen Franzosen und davon, wie sich alle am Ende doch als Europäer verständigen können. Aber dennoch wirkt der Film heute aus der Zeit gefallen. Das Sinnbild vom „alten“ westeuropäischen Europa als chaotischer Wohngemeinschaft, die trotz allem irgendwie funktioniert, passt nicht mehr zur Realität der EU im Spätsommer 2015.

Wer das europäische Einigungswerk in der Vergangenheit begründen wollte, der hatte immer ein einleuchtendes Argument zur Hand: Angesichts globaler grenzüberschreitender Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Flüchtlingsnot sind die Nationalstaaten alleine nicht mehr handlungsfähig. Nur im europäischen Verbund, so lautet das Standardargument, lassen sich jene Probleme lösen, denen alle Europäer gleichermaßen gegenüberstehen. Nun kommen tatsächlich hunderttausende Flüchtlinge in Europa an, auf der griechischen Insel Kos, am Budapester Bahnhof Keleti, in München und Rosenheim. Die Situation ist da, um es mit Konrad Adenauer zu sagen. Und die Europäer versagen bisher kläglich bei der Suche nach einer gemeinsamen Antwort.

Die EU braucht eine dauerhafte Lösung zur Verteilung der Flüchtlinge

Dass die gegenwärtige Situation nicht tragbar ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen der Asylbewerber. In Deutschland wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres 110.320 Asylbewerber registriert. Das sind fast genauso viele Flüchtlinge, wie insgesamt in den übrigen 27 EU-Ländern im selben Zeitraum einen Asylantrag stellten – 155.190. Selbst wenn zahlreiche Asylbewerber vom Balkan wieder von Deutschland in ihre Heimat zurückgeschickt werden, kann es auf Dauer nicht bei der ungleichen Verteilung der Schutzsuchenden auf die einzelnen Mitgliedsländer in Europa bleiben. Es ist möglich, dass die mörderischen Dschihadisten des „Islamischen Staates“ noch während des gesamten kommenden Jahrzehnts Syrien und Irak heimsuchen werden. Folglich werden auch in den nächsten Jahren weiter zahlreiche Flüchtlinge aus Syrien und dem weiteren Umkreis der Region nach Europa kommen. Was wiederum bedeutet: Die EU braucht eine dauerhafte Lösung zur Verteilung der Flüchtlinge, die Deutschland entlastet.

Doch viele Staatenlenker in der Europäischen Union drücken sich vor ihrer Verantwortung. Unter den großen Mitgliedsstaaten müssen sich vor allem Großbritannien und Polen vorwerfen lassen, dass sie sich gegen die Flüchtlinge abschotten. Der britische Premier David Cameron lehnt ein Quotensystem zur Verteilung der Asylbewerber in der EU ab und kann sich auf ein „Opt in“ berufen, das London dazu berechtigt, sich in eine europäische Flüchtlingsregelung nur dann einzuklinken, wenn es opportun erscheint.

So weit, so europäisch-kompliziert. Doch auch die Staaten, die eigentlich bei einer gemeinsamen Asylpolitik mitmachten müssten, wollen möglichst wenige der jetzt über die Balkanroute ankommenden Menschen aufnehmen: Spanien sieht sich wegen der hohen Arbeitslosigkeit derzeit außer Stande, sich im großen Stil zu engagieren. Und in osteuropäischen Staaten erklären Politiker allen Ernstes, man wolle nur Christen aufnehmen, aber keine Muslime.

Orban legt es auf einen Zerfall der EU an

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban.

© imago

Weil die Politik bei der Verteilung der Flüchtlinge nicht vorankommt, werden inzwischen auf anderem Wege Fakten geschaffen. Innereuropäische Grenzen, die vorher noch durchlässig waren, werden auf einmal zu Barrieren. Die Nachricht, dass Italien wegen der Flüchtlinge auf Wunsch Deutschlands die Kontrollen an der Grenze zu Österreich vorübergehend wieder eingeführt hat, muss jeden Europäer hellhörig machen. Der schrankenlose Grenzverkehr im Schengen-Raum, der zu den großen Errungenschaften der Europäischen Union gehört, ist auf einmal in Frage gestellt. Während der Griechenlandkrise benutzte Angela Merkel lange Zeit den Satz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ wie ein Mantra. Jetzt müsste die Kanzlerin eigentlich eindringlich davor warnen, dass Grenzkontrollen im Schengen-Raum nicht wieder zur Regel werden dürfen: „Scheitert Schengen, dann scheitert Europa!“ Da Merkel aber bekanntlich derartiges Pathos nur sehr sparsam einsetzt, sagte sie bei ihrem jährlichen Auftritt in der Bundespressekonferenz nur, dass die Europäer bei der Aufnahme der Flüchtlinge „kameradschaftlich zu einer Lösung“ kommen sollten. Sie erwähnte allerdings auch, dass sie „jetzt nicht alle Folterinstrumente zeigen“ wolle. Mit anderen Worten: Ohne harte Verhandlungen dürfte es wohl auch diesmal nicht gehen. Nur bittet im Fall der Flüchtlinge – anders als in der Griechenlandkrise – nicht Athen um eine Entlastung, sondern Berlin.

Anders als Großbritannien könnte Ungarn einen Platz im "Herzen Europas" einnehmen

Derzeit deutet wenig darauf hin, dass Merkel und Co. tatsächlich einen auf Dauer tragfähigen Mechanismus beschließen können, der eine nennenswerte Umverteilung der Flüchtlinge in Europa ermöglichen würde. Vielmehr erleben die Europäer ihren Kontinent in diesen Tagen als einen Ort, an dem jeder den Flüchtlingen so begegnet, wie er will. Eine zerstörerische Rolle spielt dabei Ungarns Regierungschef Viktor Orban. Sein Land gehört seit 2004 zur EU. Anders als Großbritannien ist Ungarn sogar Teil des Schengen-Raums. Man könnte also glauben, dass Ungarn tatsächlich ins „Herz Europas“ gehört. Diesen Ausdruck hat einmal der frühere britische Premierminister John Major gebraucht. Major meinte damit, dass Großbritannien beim „Projekt Europa“ mit ganzer Kraft mitmachen solle. Dies ist den Briten nie gelungen. Ungarn hätte hingegen die Möglichkeit, sich am europäischen Integrationsprojekt mit vollem Einsatz zu beteiligen. Doch Orban legt es im Gegenteil darauf an, die europäischen Partner ein ums andere Mal zu brüskieren. Er beschneidet die Meinungsfreiheit, rüttelt an den Prinzipien der Gewaltenteilung im eigenen Land, und nun hebelt er die Bestimmungen des Dublin-Verfahrens zur Bearbeitung von Asylanträgen aus, indem er die Flüchtlinge ohne Registrierung in Ungarn nach Österreich und Deutschland weiterreisen lässt. Dabei nimmt Orban den Zerfall der Europäischen Union in Kauf. Für die Europäer stellt sich inzwischen die Grundsatzfrage, wie sie ihren Kontinent weiterhin politisch gestalten möchten: Wollen sie ein Europa, in dem sich jeder auf eine eigene Sonderregelung zurückziehen kann, oder eine Union, in der gemeinschaftliche Verfahren tatsächlich etwas gelten?

Die Schuldigen sitzen nicht in Brüssel, sondern heißen Marine Le Pen oder Nigel Farage

Der EU-Kommission in Brüssel kann man dabei noch am wenigsten den Vorwurf machen, nichts zur Lösung beizutragen. Bereits im vergangenen Mai unternahm Brüssel einen Anlauf, der verbindliche Quoten zur Aufnahme von Flüchtlingen vorsah. Allerdings bügelten zahlreiche Staats- und Regierungschefs bei einem Gipfel im Juni den Vorschlag ab. In der Zwischenzeit hat sich die Flüchtlingskrise weiter verschärft. Die von Jean-Claude Juncker geführte Brüsseler Behörde sieht sich damit in ihrer Lesart bestätigt, dass an einem Notfallmechanismus zur Verteilung der Schutzsuchenden kein Weg vorbeiführt.

„Brüssel“ dient zwar häufig als Zielscheibe, wenn es um die Verfehlungen europäischer Politik geht. Aber es liegt nicht an „Brüssel“, dass viele Europäer so wenig Empathie mit den Flüchtlingen zeigen. Die Verantwortlichen für den beschämenden Stillstand sitzen in den Nationalstaaten. Sie heißen Nigel Farage oder Marine Le Pen. Wer verstehen will, wie sehr rechtspopulistische Parteien in vielen EU-Ländern inzwischen den Ton in der Einwanderungspolitik vorgeben, muss nach Großbritannien schauen. Nach der Ansicht von Christian Odendahl, des Chefökonomen der Londoner Denkfabrik „Centre for European Reform“, wird die These, dass es zu viele Einwanderer auf der Insel gebe, inzwischen nicht nur von Anhängern der von Nigel Farage geführten Ukip-Partei und von skeptischen Medien geteilt, sondern von breiten Schichten in der Gesellschaft. Laut einer Erhebung des Nationalen Zentrums für Sozialforschung befürworten 77 Prozent der Briten eine Beschränkung der Einwanderung. 56 Prozent sprechen sich sogar für einen starken Rückgang der Einwandererzahlen aus.

Ähnlich wie der EU-feindlichen Ukip in Großbritannien gelingt es auch dem rechtsextremen Front National in Frankreich zunehmend, Stimmung gegen Einwanderer zu machen. Die Regierung in Paris sei unfähig, das „Problem der illegalen Einwanderung“ zu regeln, sagte die Front-National-Chefin Marine Le Pen in dieser Woche. Höhnisch fügte sie hinzu: „Danke EU, Danke Schengen.“

Bei der Europawahl im vergangenen Jahr stimmten in Frankreich immerhin 25 Prozent der Wahlberechtigten für Marine Le Pen, die die EU am liebsten abschaffen würde. Würden überall in der Europäischen Union Politiker wie Marine Le Pen eine Mehrheit erhalten, wäre Europa gescheitert. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Ob die EU auch weiterhin als politisches System eine Rolle spielt, hängt in erster Linie davon ab, ob die Bürger sie mittragen.

Ob die EU scheitert, liegt am Ende in den Händen der Bürger

Bauernproteste in Brüssel. Polizisten stehen demonstrierenden Landwirten gegenüber.
Bauernproteste in Brüssel. Polizisten stehen demonstrierenden Landwirten gegenüber.

© imago

Welches Bild sich die Bürger von ihrer Europäischen Union machen, hat letzten Endes auch etwas damit zu tun, ob die Politiker aus der Mitte des politischen Spektrums kleinlaut den populistischen Lautsprechern das Feld überlassen oder ob sie immer wieder auf die Vorzüge der Gemeinschaft hinweisen. Es mag Bürger geben, die für derartige Botschaften nicht mehr empfänglich sind – wie jenen schnauzbärtigen Mann, der sich neulich in Heidenau bei der Aussage filmen ließ, man solle doch sämtliche Flüchtlinge „nach Brüssel“ schicken, „denn von dort kommt doch die ganze EU-Scheiße“. Aber viele andere dürften es nicht als Übertreibung empfinden, dass bis jetzt viele in der Europäischen Union zu den Gewinnern zählen. Dazu gehören alle, die vom Binnenmarkt profitieren und die Freizügigkeit als Arbeitnehmer für sich in Anspruch nehmen. Und auf der Gewinnerseite stehen nicht zuletzt die Menschen in Osteuropa, die seit dem Beitritt zur Union auch dank der EU-Förderung wirtschaftlich aufgeholt haben.

EU zwischen der Überfrachtung mit Erwartungen und einer kritischen Öffentlichkeit

Dass das Ansehen der EU in den Augen vieler Bürger dennoch begrenzt ist, hängt aber mit der undankbaren Zwitterrolle der Union zusammen. Einerseits wird sie permanent mit neuen Erwartungen überfrachtet, andererseits muss sie sich ständig – anders als die selbstverständlich in sich ruhenden Nationalstaaten – neu legitimieren. Die Leute beurteilen die EU meistens nicht danach, was sie schon alles Tolles erreicht hat, sondern danach, was sie in der Jetztzeit liefert.

Dabei waren die EU und ihre Mitgliedstaaten in der jüngeren Vergangenheit mal mehr, mal weniger erfolgreich. Zwei Beispiele – die Reaktion der EU in der Ukrainekrise und die Endlossaga der Griechenlandrettung – verdeutlichen die Licht- und Schattenseiten der europäischen Einigung. Dass die EU-Staaten bislang die Sanktionen gegen Russland einmütig getragen haben, ist ein Erfolg der europäischen Außenpolitik. Natürlich darf niemand erwarten, dass die EU-Staaten in der Diplomatie jemals mit einer Stimme sprechen werden. So hätte sich Polen durchaus härtere Sanktionen gegen Moskau vorstellen können als andere osteuropäische Länder. Aber am Ende zählt: Die Europäer lassen sich in der Konfrontation mit Russland bis zum heutigen Tag nicht auseinanderdividieren.

Wie die Griechenland-Rettung ausgeht, ist noch offen

Unklar ist hingegen immer noch, wie die Rettungsaktion für Griechenland ausgeht. Um eine Staatspleite Griechenlands abzuwenden, sind die europäischen Geldgeber bis an die Schmerzgrenze des rechtlich Erlaubten gegangen. Ob mit dem dritten Hilfspaket tatsächlich die Modernisierung des Landes gelingt oder oder ob es sich bei dem 86-Milliarden-Euro-Programm nur um einen verlorenen Zuschuss handelt, hängt in erster Linie von den Griechen selber ab.

Das Beispiel der Griechenlandrettung zeigt, was die EU nach wie vor in erster Line ist: ein Klub von souveränen Staaten. Die Mitgliedsländer haben es selbst in der Hand, bis zu welchem Maß sie ihr Schicksal der Gemeinschaft überantworten wollen. Vor allem Großbritannien hadert seit Jahrzehnten damit, dass Brüssel manchmal mehr zu sagen hat als London. Voraussichtlich schon im kommenden Jahr wird es beim EU-Referendum zum Schwur kommen. Zu den größeren Aufgaben wird es deshalb für die Europäer in den nächsten Monaten gehören, David Cameron genug Zugeständnisse zu machen, damit er guten Gewissens bei der Volksabstimmung für einen Verbleib seines Landes in der Europäischen Union werben kann. Alarmismus ist angesichts der „Brexit“-Debatte fehl am Platze. Am Ende dürften die Briten, denen ihr Portemonnaie näher ist als die EU-Skepsis, für einen Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union stimmen. Und Cameron wird es wohl kaum gelingen, die EU-Grundfreiheit außer Kraft zu setzen, die es Rumänen und Bulgaren erlaubt, auf der Insel nach einer Arbeit zu suchen. Stattdessen könnte er vielleicht ein paar Zugeständnisse erhalten, die dem Finanzplatz London nutzen.

Scheitert die EU? Das wird sich zeigen, wenn die nächste Generation ihre eigene Europäische Union gestaltet. Neulich machte sich meine Tochter in ihrer Enttäuschung über die EU-Flüchtlingspolitik Luft. Mit provokantem Unterton sagte die 16-Jährige, die mal Deutsch, mal Französisch mit mir spricht, es sei ein „Bon débarras“ („Die wären wir los!“), wenn es die EU eines Tages nicht mehr gäbe. Wenn junge Leute heute einen Abschied von der Europäischen Union für verschmerzbar halten, ist das kein gutes Zeichen. Die Bürger – egal welchen Alters – erwarten in der Flüchtlingspolitik von der EU viel. Die Europäische Union sollte sie nicht enttäuschen.

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