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Mit Visum oder ohne? Die Türkei drängt darauf, dass ihre Bürger sich in der EU möglichst bald ohne Visa bewegen können.

© Soeren Stache/dpa

Europa und die Türkei: „Visafreiheit wäre nicht verkraftbar“

Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer über die Beziehungen zur Türkei, Reisefreiheit innerhalb der EU, seine CSU und kirchliche Wähler.

Herr Singhammer, die CSU möchte am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei festhalten, ihr aber die gleichzeitig in Aussicht gestellte Visafreiheit verwehren. Warum?

Der Türkei komplette Visumsfreiheit zu gewähren, wäre ein politisch hochriskanter Drahtseilakt. Es bestünde die Gefahr, dass dadurch eine unbekannt große Zahl Menschen aus innertürkischen Fluchtgründen nach Europa und nach Deutschland kämen. Das könnten wir nicht mehr bewältigen. Schon heute leben rund 77.600 abgelehnte Asylbewerber aus der Türkei in Deutschland.

Mit welchen zusätzlichen Flüchtlingen wäre aus Ihrer Sicht zu rechnen?

Allein die Zahl der Kurden, welche das Visum nutzen könnten, um dauerhaft in die EU zu gelangen, könnte Schätzungen zufolge zu einer ähnlich großen Zuwanderungsbewegung wie im vergangenen Jahr führen. Weil auch viele andere kommen, die nach dem Putsch in der Türkei keine Existenzmöglichkeit mehr sehen.

Was würde das für Deutschland bedeuten?

Wenn sich die Zahl der Flüchtlinge noch mal in einer Größenordnung wie 2015 bewegen würde, wäre das nicht zu verkraften. Zudem bestünde das Risiko, die innertürkischen Konflikte zu importieren. Das kann keiner wollen.

Im Zweifel also lieber gar kein Abkommen als eines mit Visa-Freiheit?

Ich denke, wir müssen der Türkei gegenüber ehrlich sein. Wir können ihr Hilfen in Aussicht stellen für die dort aufgenommenen Flüchtlinge. Aber wir müssen auch deutlich machen, dass Deutschland und Europa derzeit nicht vorbereitet sind auf eine umfassende Visafreiheit. Türkische Staatsangehörige, die hier Familienangehörige haben oder Geschäftsbeziehungen unterhalten, bekommen ja auch bisher schon problemlos ein Visum.

Man könnte argumentieren, dass die EU mit der Visa-Freiheit ein Mittel hat, um in der Türkei auf ein Ende der Verfolgung politisch Andersdenkender zu drängen ...

Der richtige Weg ist, beharrlich und nachhaltig auf die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit und Religionsfreiheit hinzuwirken. Im Übrigen erhält die Türkei Milliardenbeträge von der EU, um genau dieses Ziel zu erreichen. Die Türkei dürfte, unabhängig von der Visumsfrage starkes Interesse daran haben, dass diese Finanzunterstützung weiter fließt.

Derzeit erfüllt die Türkei die Bedingungen für Visafreiheit ohnehin nicht.

Das ist richtig. Aber die Türkei drängt, sie möchte die Visafreiheit zum 1. Oktober. Nach den aktuellen Äußerungen des luxemburgischen Außenministers Asselborn befürchten viele, dass es zu einer Situation kommt, in der man ein Gesamtpaket schnürt und in Kauf nimmt, dass nicht alle der 72 Bedingungen erfüllt sind.

Johannes Singhammer (63) ist CSU-Politiker und seit 2013 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.
Johannes Singhammer (63) ist CSU-Politiker und seit 2013 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

© imago/Lindenthaler

Was also sollte geschehen?

Die Bundesregierung muss in Brüssel eine solche Entwicklung verhindern. Dafür bedarf es einer ausführlichen Debatte im Bundestag. Das Parlament muss von den Rechten, die es sich erkämpft hat, Gebrauch machen und der Regierung die entsprechende Meinungsbildung mitgeben.

Das Verhältnis zur CDU ist gespannt. Kann die CSU da noch ein Fass aufmachen?

Das hat mit den bisherigen Auseinandersetzungen, etwa dem Disput um eine Obergrenze, nichts zu tun. Wir sind uns einig, dass eine derart große Zahl weiterer Zuwanderer nicht zu verkraften ist. Und das Argument, dass man eine gewährte Visafreiheit notfalls über europäisches Recht wieder außer Kraft setzen könnte, beruhigt nicht. Dazu kommt, dass wir an den EU-Außengrenzen noch gar nicht die Registriermöglichkeiten haben. Das würde alles nicht funktionieren.

Im Flüchtlingsstreit hat auch das Verhältnis der CSU zu den Kirchen schwer gelitten. Wäre das vermeidbar gewesen?

Die CSU fühlt sich den Kirchen in ganz besonderer Weise verbunden. Schon Franz-Josef Strauß hat gesagt, dass wir zwar nicht den Anspruch haben, christliche Politik zu betreiben, wohl aber Politik aus christlicher Verantwortung.

Ihr Generalsekretär hat die Kirchen jetzt besonders erzürnt. Er sagte: „Das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist, weil den wirst du nie wieder abschieben.“

Ihm sind Sätze vorgehalten worden, die er so gar nicht gesagt hat. Zum Beispiel: „Den kriegen wir nie wieder los.“ Und man muss den Zusammenhang sehen: Hilfe ja, aber auch klar sagen, dass sie nur begrenzt erfolgen kann. Und dass die Asylverfahren kürzer werden müssen. Ich finde, mit Blick darauf kann man dem Kollegen Scheuer keinen Vorwurf machen.

Hätte er nicht wenigstens das mit dem Ministrieren weglassen sollen?

Wir brauchen den Dialog mit den Kirchen. Und die wechselseitigen Anmerkungen zeigen, dass dieser Dialog noch viel intensiver geführt werden muss.

Ex-Parteichef Theo Waigel hat die CSU gemahnt, die kirchlichen Wähler nicht zu verprellen. Sehen Sie auch diese Gefahr?

Nein. Kirchliche Wähler sind bei uns gut verankert. Sie wissen, dass gerade Bayern, wo im vorigen Jahr die meisten Flüchtlinge ankamen, Hervorragendes geleistet hat. Die von der CSU gestellte Staatsregierung und die Bürger gemeinsam. Und im Grunde sind wir mit den Kirchen ja einer Meinung: Wir wollen denen helfen, die Hilfe brauchen. Aber es macht keinen Sinn, langatmigste Verfahren zu betreiben, wo nach drei Jahren feststeht, dass jemand, der dann bei uns Wurzeln geschlagen hat, das Land wieder verlassen muss.

Die Fragen stellte Rainer Woratschka.

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