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Politik: Europa von unten

von Harald Schumann

Gewerkschafter protestieren, Industrielobbyisten warnen, und Parlamentarier schmieden umstrittene Kompromisse – die Vorgänge um die EU-Dienstleistungsrichtlinie scheinen alltäglich. So kennen wir es, das Kräftemessen in unserer Demokratie.

Doch der Eindruck trügt. Denn beim Streit über die Sozial- und Lohnstandards auf dem Dienstleistungsmarkt bewegen sich die Akteure auf dem unübersichtlichen Terrain einer Staatengemeinschaft namens Europäische Union, die vor acht Monaten schon bei dem Versuch scheiterte, sich überhaupt eine Art Verfassung zu geben. Als höchstes Gesetzgebungsorgan dienen darum bis heute die so genannten Ministerräte, also die Versammlung von 25 Abgesandten aus den Regierungsbürokratien der Mitgliedsländer. Im Verein mit der ebenfalls von den Regierungen besetzten EU-Kommission waren es letztlich diese Beamtengremien, die vorbei an der Gewaltenteilung hinter verschlossenen Türen seit Jahrzehnten das EU-Recht gestaltet haben. Lange, viel zu lange galt da das Straßburger EU-Parlament allenfalls als Störfaktor, der sich aber über die Apparate der jeweils regierenden nationalen Parteien leicht disziplinieren ließ.

Diese Beamtendiktatur barg den Vorteil, dass radikale Veränderungen wie der EU-Binnenmarkt und die Osterweiterung schnell durchzusetzen waren. Doch sie sorgte eben auch dafür, dass vorrangig jene Interessen bedient wurden, die mit viel Geld das 15 000-köpfige Heer des Brüsseler Lobbyistenzirkus betreiben, wo jedem Vertreter von sozialen oder ökologischen Belangen mindestens 50 Industrieexperten gegenüberstehen.

Darum war es vor allem diese Fehlkonstruktion, der Franzosen und Niederländer vergangenes Jahr eine Absage erteilten, als sie gegen den Verfassungsentwurf stimmten. Insofern handelte es sich nicht um ein Bürgervotum gegen Europa schlechthin, sondern um „den demokratischen Impuls, einen über die Köpfe der Bürger hinwegrollenden Prozess anzuhalten“, wie Jürgen Habermas schrieb.

Das Erstaunliche ist: Dieser Impuls hat gezündet. Das Projekt Verfassung mag auf Eis liegen. Umso lebendiger entwickelt sich die EU-Demokratie. Nichts anderes steht hinter dem heftigen Ringen um das EU-Gesetz zum Dienstleistungsmarkt. Endlich drängen nicht mehr nur Regierungen und Lobbyisten auf das europäische Parkett, sondern auch soziale Bewegungen wie Attac oder die Gewerkschaften. Ein Europa von unten formiert sich, und beinahe automatisch wächst dem EU-Parlament endlich die Funktion zu, die bisher fehlte. Es nimmt diese Stimmen auf und wird zum zentralen Forum der Entscheidungsfindung in der EU.

Und das nicht nur in diesem Fall. Ähnlich verlief es, als Hafenarbeiter gegen den Liberalisierungsplan der Kommission auf die Straße gingen und das Parlament ihnen zur Seite stand. Zuvor hatten sich die EU-Abgeordneten beim Streit über Patente für Software auf die Seite unabhängiger Entwickler geschlagen, die sich ihrerseits EU-weit organisiert hatten. Gleichzeitig fechten die EU-Volksvertreter um die künftige Finanzierung der EU einen harten Machtkampf mit den Regierungen aus und beanspruchen verspätet, aber doch noch das Basisrecht aller Parlamente, die Budgethoheit.

Gewiss, all das heilt nicht die Defizite der geltenden EU-Verträge von der fehlenden gemeinsamen Außen- und Steuerpolitik bis zum undemokratischen Wahlrecht. Aber zumindest wird anders als früher über Europas Projekte demokratisch gestritten, bevor sie beschlossen werden, und nicht erst danach. Das ist ein Anfang.

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