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Flüchtlinge gehen mit ihrem Hab und Gut in Gießen (Hessen) über eine Straße zur Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung des Landes. Auf dem Kasernengelände am Stadtrand sind tausende Flüchtlinge untergebracht.

© dpa

Europäische Flüchtlingspolitik: Eine gemeinsame EU-Politik ist so real wie der Nikolaus

Von Anfang an war klar, dass eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik nur eine Wunschvorstellung ist. Die Bundesregierung, allen voran Angela Merkel, muss deshalb jetzt ein neuer Sinn fürs Mögliche leiten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ein kurzer Blick auf Europa: Markanter Rechtsruck bei der letzten Europawahl. Und danach? In der Schweiz erzielt die SVP mit 29,4 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis. In Frankreich kratzt Marine le Pen am Präsidentenstuhl. In Polen siegen mit großem Abstand die Nationalkonservativen. Großbritannien debattiert über den Brexit. In den Niederlanden ist Geert Wilders populärer als Regierungschef Mark Rutte. Bei Landtagswahlen in Österreich erzielt die FPÖ Rekordergebnisse. In Ungarn legt die Regierungspartei Fidesz um Regierungschef Viktor Orban in Umfragen weiter zu. In Skandinavien sitzen Rechtspopulisten seit 2015 fast überall an den Schalthebeln der Macht.

Und wir wundern uns, dass es keine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik gibt? Keine faire Verteilung der Ankömmlinge auf alle 28 EU-Staaten? "Europa lässt Angela Merkel schändlich im Stich", schreibt Theo Sommer auf „Zeit“-online und fordert, dass wir die Gelder, "die wir für die Aufnahme, Versorgung und Integration der Flüchtlinge benötigen, von unseren Überweisungen nach Brüssel abziehen". Das gelte besonders für die "Drückebergerstaaten".

Allerorten wird nun die Union der Egoisten, der Rückzug ins Nationale, die Aufkündigung der Solidarität, das Ende der Wertegemeinschaft beklagt. Dabei war von Anfang an klar, dass es in absehbarer Zeit wegen fehlender Integrationstraditionen – etwa in Osteuropa - und wachsender Angst vor dem weiteren Erstarken ausländerfeindlicher Bewegungen und Parteien keine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik geben wird. Von Anfang an war klar, dass Deutschland (und Schweden) das Gros der Lasten tragen. Von Anfang an wusste jeder, der es wissen wollte, dass kein europäischer Konsens über verpflichtende Aufnahmequoten zu erzielen sein würde.

Auf Enttäuschung folgt Wut, auf Wut folgt Abwendung oder Bestrafungsbedürfnis

Das Wehklagen erinnert an die Tränen des Kindes, das soeben erfahren hat, dass der Weihnachtsmann nicht existiert. Darüber hinaus ist es gefährlich. Wer eine europäische Solidarität beschwört, die es nicht gibt, schürt antieuropäische Ressentiments. Denn auf

Enttäuschung folgt Wut, auf Wut folgt Abwendung oder Bestrafungsbedürfnis (kein Geld mehr nach Brüssel!). "Wir schaffen das", sagt Angela Merkel. Ein mutiger Satz – und Vorsatz. Er ist an keine Bedingung geknüpft, enthält keine Voraussetzungen. Es gehört

zur politischen Reife eines Landes, nun nicht nachträglich solche Bedingungen und Voraussetzungen einzuführen. Gesamteuropa in die Haftung zu nehmen, darf nicht mit dem Ziel geschehen, die eigene Verantwortung für die Bewältigung der Flüchtlingskrise zu

minimieren.

Zusätzlich erzeugen deutsche Appelle an die europäische Solidarität antideutsche Ressentiments im Rest Europas. Wer in steter Folge als inhuman, herzlos und amoralisch tituliert wird, ändert sehr viel seltener sein Verhalten, als dass ihn die Beschimpfung trotzig werden lässt. Jetzt erst recht! Ungarn hat’s vorgemacht, andere Länder könnten folgen.

Die Bundesregierung, allen voran die Kanzlerin, wagt mit ihrer Flüchtlingspolitik viel. Entsprechend große Ressourcen muss sie mobilisieren, entsprechend umfangreiche Mittel investieren. Dabei wird sie die Früchte dieser Politik auf lange Zeit nicht ernten können. Stabilisierung der Lage, Rückgewinnung eines gewissen Maßes an Kontrolle: Das ist kurzfristig am dringendsten. Statt sich an Chimären zu klammern wie die einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik, muss sie ein neuer Sinn fürs Mögliche leiten.

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