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Ein Rettungsboot der italienischen Küstenwache.

© dpa

Europäische Flüchtlingspolitik: Wie können Tragödien im Mittelmeer verhindert werden?

Nach dem wohl schwersten Flüchtlingsunglück mit vermutlich mehr als 900 Toten herrscht Handlungsbedarf. Was ist passiert und wie können weitere Tragödien verhindert werden?

In der Nacht zum Sonntag hat sich rund 110 Kilometer vor der Küste Libyens das wahrscheinlich schwerste Flüchtlingsunglück im Mittelmeer ereignet. Möglicherweise über 900 Menschen sind ertrunken, als ein überladenes Flüchtlingsboot nach einem Notruf kenterte. Europäische Politiker und internationale Hilfsorganisationen fordern Konsequenzen aus der Tragödie.

Warum kam es zu dem Unglück?

Offenbar hat ausgerechnet die Ankunft eines portugiesischen Frachters, der nach einem Notruf Hilfe leisten wollte, das Unglück ausgelöst. Wie Einsatzkräfte berichten, stürzten zahlreiche Flüchtlinge auf jene Seite des Flüchtlingsbootes, an der sich der Frachter näherte, – und brachten damit das Boot zum Kentern. Hunderte Menschen stürzten ins Meer und ertranken. Es handele sich damit um die „größte Flüchtlings-Schiffskatastrophe in der neueren Geschichte des Mittelmeers“, sagte der Sprecher des transnationalen Helfernetzwerks „Watch the med“, Helmut Dietrich, dem Tagesspiegel. .

Wie viele Menschen befanden sich an Bord des Flüchtlingsbootes?

Die genaue Zahl der Flüchtlinge auf dem gekenterten Kutter konnte die italienische Küstenwache vorerst nicht definitiv klären. Die ursprünglich genannte Zahl 700 beruhe, so erklärten die Behörden, auf den Angaben jenes Afrikaners, der vom Boot aus den Notruf abgesetzt hatte. Später berichtete die italienische Nachrichtenagentur Ansa von bis zu 950 Menschen an Bord des Kutters. Dass er überfüllt war, daran hegten die italienischen Einsatzkräfte aufgrund der bisherigen Gebräuche der nordafrikanischen Schleuser keine Zweifel. Womöglich hätte das Flüchtlingsboot sogar problemlos weiterfahren können. Der nächtliche Notruf, so die Behörden am Sonntag Nachmittag, habe „nicht aufgeregt“ geklungen. Er lautete: „Wir sind unterwegs, helft uns!“

Was war bislang das schwerste Flüchtlingsunglück im Mittelmeer?

Neben den vielen kleineren Schiffbrüchen – dieses Jahr sollen vor dem jüngsten Unglück bereits 950 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sein –, hat sich die letzte Tragödie großen Umfangs am 3. Oktober 2013 abgespielt. Damals kenterte in Sichtweite der Insel Lampedusa ein Flüchtlingsboot, 366 Menschen starben. Nach Angaben des Innenministeriums in Rom sind 2015 bereits 23.500 Flüchtlinge nach Italien gelangt, das ist ein Drittel mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Wie viele Flüchtlinge verunglücken jährlich im Mittelmeer?

Schon 2014 ist das Mittelmeer der mit Abstand tödlichste Ort für Flüchtlinge gewesen. Mehr als 3000 Menschen starben auf dem Weg von Afrika nach Europa – 75 Prozent aller Flüchtlingstoten weltweit, wie aus einer Studie der Internationalen Organisation für Migration hervorgeht. Laut deren Experten Federico Soda hat sich die Zahl der Toten in den ersten vier Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr nicht weniger als verzehnfacht. Der Sprecher des transnationalen Helfernetzwerks „Watch the med“, Helmut Dietrich sagte, aufgrund des in den vergangenen drei Jahren angestiegenen Flüchtlingsdrucks wäre es die „Pflicht Europas und der Welt“, sichere Schiffspassagen für Flüchtlinge zu organisieren. „Wir fordern eine sofort einzurichtende direkte Fährverbindung für Flüchtlinge aus Tripolis und anderen Orten Nordafrikas nach Europa“, sagte er.

Warum sterben immer mehr Flüchtlinge auf hoher See?  

Die EU-Innenminister führten die steigenden Zahlen nicht auf zu wenig, sondern zu viel Seenotrettung zurück. Der italienischen Operation „Mare Nostrum“, die 140.000 Menschen aus dem Mittelmeer fischte, wurde auch von Bundesinnenminister Thomas de Maizière ein „Sogeffekt“ unterstellt, weil Schleuserbanden die Flüchtlinge nur noch wenige Meilen aufs Meer hinausbringen müssten, wo sie dann mit großer Sicherheit gerettet würden. „Wir helfen den Schleppern“, so de Maizière. Auch aus Kostengründen wurde „Mare Nostrum“ daher im Herbst durch die EU-Operation „Triton“ ersetzt – mit dem tödlichen Unterschied, dass ihr Aktionsradius auf 30 Seemeilen vor der Küste begrenzt ist. Die Annahme, dass damit die Zahl der Bootsflüchtlinge sinken würde, hat sich wegen der eskalierenden Bürgerkriege in Libyen und Syrien nicht bewahrheitet.

Wie können weitere Tragödien im Mittelmeer verhindert werden?

„Menschenleben müssen gerettet werden“, sagt Günter Burkhardt von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. „Es ist völlig egal, ob dadurch Schlepper profitieren.“ Europäische Sozialdemokraten, Grüne und Linke riefen übereinstimmend nach einem umfassenden Seenotrettungsprogramm. „Wer vor Krieg und Zerstörung flieht, den dürfen wir nicht weiter kriminellen Schleppern und den Launen des Mittelmeers überlassen“, sagte die Grünen-Europaabgeordnete Barbara Lochbihler. Die Brüsseler EU-Kommission verwies in einer Stellungnahme darauf, dass sie an einer neuen europäischen Migrationsstrategie arbeitet. Im Mittelpunkt stehen dabei eine bessere Zusammenarbeit mit den Transitländern und legale Einreisemöglichkeiten. Wie Thomas de Maizière schon vor einem Monat sagte, könnte das zum Beispiel darauf hinauslaufen, dass die Vereinten Nationen Auffanglager in Afrika betreiben, in denen bereits überprüft wird, ob ein Asylanspruch in Europa besteht. Es gibt allerdings auch weniger praktikable Forderungen. In Italien sagte Daniela Santanché, eine enge Vertraute von Silvio Berlusconi: „Die einzige Lösung besteht darin, dass Luftwaffe und Marine unverzüglich ausrücken und alle Boote versenken, die an der libyschen Küste zum Auslaufen bereitstehen.“

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