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Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU)

© Ralph Orlowski / REUTERS

Europapolitik: Schäubles EU-Reformvorschlag ist zu kurz gedacht

Wolfgang Schäuble will das Einstimmigkeitsprinzip der EU kippen, um das Reformtempo zu erhöhen. Doch das will die Mehrheit der Mitglieder nicht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Ausgerechnet Wolfgang Schäuble! Der Politiker, der als Bundesfinanzminister finster entschlossen jeden vermeintlichen oder tatsächlichen Angriff aus Brüssel auf die soliden deutschen Staatsfinanzen abwehrte. Ausgerechnet dieser Wolfgang Schäuble will nun das Einstimmigkeitsprinzip bei EU-Entscheidungen schleifen und das Risiko eingehen, dass deutsche Positionen überstimmt werden können.

„Einstimmigkeitsprinzip heißt, dass der Langsamste alles blockieren kann“, sagte er jetzt in einem Interview des rbb-Inforadios, und fordert stattdessen künftig ein System von Mehrheitsentscheidungen, „von mir aus qualifizierten Mehrheitsentscheidungen“, fügte er hinzu.

Nun ist - und dieser Erkenntnis würde sich Wolfgang Schäuble kaum verschließen – niemand davor gefeit, klüger zu werden. Und mit dem Amtswechsel vom Bundesfinanzminister zum Präsidenten des Deutschen Bundestages ist nicht nur eine höhere Sitzposition im Plenum verbunden, sondern vielleicht auch die Bereitschaft und die Lust, in größeren Zusammenhängen zu denken. Denn die gerade erst wieder auf der Münchner Sicherheitskonferenz beklagte Entscheidungsschwäche Europas ist eine Folge des Zwanges, bei vielen Entscheidungen Einstimmigkeit zu erzielen. Das gilt vor allem in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und das betrifft nicht nur die EU, sondern auch die Nato.

Hier sind die Deutschen sehr häufig die Blockierer, weil der Parlamentsvorbehalt bei allen Einsätzen der Bundeswehr immer wieder dazu führt, dass deutsche Soldaten sich an gemeinsamen Aktionen gar nicht beteiligen, oder plötzlich aus einem Verband abgezogen werden müssen. Griechenland wiederum hat die Aufnahme Mazedoniens in die EU und die Nato über Jahre hinweg wegen eines Streits über den Namen des Landes blockiert.

Es sind vor allem solche ganz grundsätzlichen Entscheidungen, die bislang Einstimmigkeit erfordern. Nicht nur die Aufnahme eines neuen Mitgliedslandes gehört dazu, sondern auch die Vorschriften zur Besteuerung und die EU-Finanzen. Hier vom Prinzip der Einstimmigkeit abzukehren, würde vermutlich nicht zur besseren Akzeptanz der Europäischen Union beitragen. Eben erst am Montag von der Kommission und dem Parlament vorgelegte neue Daten zum Ansehen der Europäischen Union in der Bevölkerung zeigen gerade in Deutschland sehr hohe, positive Werte, aber durchgehend in der ganzen EU auch die Vorstellung, dass der weitere Aufbau Europas in einem moderaten Tempo erfolgen sollte. Abkehr von der Einstimmigkeit würde sehr wahrscheinlich zum Gegenteil führen.

Deutschland hat Angst vor Mehrheitsvoten

Schäubles Forderung nach der Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit in besonders exponierten Feldern der Politik geht auch über die Tatsache hinweg, dass gerade Deutschland schon jetzt Angst vor Mehrheitsvoten hat, die es nach dem Vertrag von Lissabon längst häufig gibt. Nach den Vorgaben des Lissabonvertrags fallen Entscheidungen auf vielen Gebieten heute, wenn 65 Prozent der Bevölkerung der EU und 55 Prozent der Mitgliedsstaaten dafür sind. Deutsche Finanzpolitiker grämen sich bereits, dass den eher marktwirtschaftlich orientierten Deutschen nach dem Brexit mit den Briten ein ähnlich denkender Partner verloren geht.

Da einem das eigene Hemd bekanntlich näher ist als der Rock, übersehen die Deutschen jedoch, dass kleine Länder viel mehr vor einer vermuteten künftigen deutschen Dominanz Angst haben. Denn wenn Großbritannien als ein bevölkerungsreiches Land ausscheidet, wird die Bundesrepublik mit ihren über 80 Millionen Einwohnern noch mehr Gewicht bekommen.

Man muss also bezweifeln, dass Schäuble mit seinem Vorschlag in Europa auf große positive Resonanz stößt. Im Gegenteil, gerade in den kleinen Staaten der EU wird man dagegen sein – und am Ende diskutieren wir vermutlich wieder jenes Europa der zwei Geschwindigkeiten, dass Schäuble und sein Parteifreund Karl Lamers bereits vor 25 Jahren ins Gespräch brachten. Darauf zu setzen, wäre vermutlich klüger, als auch jene zu ihrem Glück zu zwingen, die das, was dann geschieht, als eher unglücklich empfinden und sich von Europa abwenden werden.   

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