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Der Trump-Schatten, der auf die USA fällt, fällt auch auf das transatlantische Verhältnis.

© imago/Ralph Peters

Europas Selbstbehauptung gegenüber den USA: „Dringenden Handlungsbedarf“ gibt es vor allem bei uns selbst

Kanzlerin Merkel und Minister Maas wollen das Verhältnis zu den USA „grundsätzlich“ überdenken. Was könnte sich dahinter verbergen? Ein Gastbeitrag

- Sigmar Gabriel war Außenminister und SPD-Vorsitzender. Er ist Vorsitzender der „Atlantikbrücke“, Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank und Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört.

Wenn man in der Politik noch nicht so richtig weiß, was man mit einer neuen Situation machen soll, dann greift man erstmal zu Worthülsen. So ist es wohl auch im Verhältnis zu den USA.

Was bedeutet „grundsätzlich“ überdenken, wie Kanzlerin Angela Merkel formulierte? Und wenn es einen „dringenden Handlungsbedarf“ (Außenminister Heiko Maas) gibt, welche Handlungen sollen das denn sein? Wenn sie dringend sind, muss es ja dazu bereits Vorschläge geben.

Die Wahrheit ist vermutlich folgende: Wir Europäer – und besonders wir Deutschen – dachten lange, dass die für uns bequeme Nachkriegsordnung auch nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ und dem Zerfall der Sowjetunion im Prinzip beibehalten werden könne. Schließlich waren die USA die einzig verbliebene Supermacht.

Wir hatten uns daran gewöhnt, uns vor allem um uns selbst kümmern zu können, während die USA (und ein bisschen Frankreich und UK als UN-Sicherheitsratsmitglieder und Nuklearstaaten) für die Welt zuständig seien. Wir traten lieber als Softpower auf (mal abgesehen von der Teilnahme am Jugoslawieneinsatz, um dort den Völkermord zu stoppen, und dem Afghanistankrieg als Folge der Attentate vom 11. September).

Schon Obama war wenig an Europa interessiert

Seit der geopolitischen Wende in den 90er Jahren haben die USA – anders als wir Europäer – über die veränderte weltpolitische Lage nachgedacht. Es setzte sich die Auffassung durch, dass die USA weniger europäisch und mehr pazifisch denken müssten, weil der Atlantik nicht mehr das wirtschaftliche, politische und militärische Gravitationsfeld der Welt war, sondern sich der Pazifik dazu entwickelte.

Diese Erkenntnis wuchs in den USA lange vor Donald Trump. Es war dessen Vorgänger Barack Obama, der von Amerika als pazifischer Nation sprach („pivot to Asia“) und sich aus dem Engagement im Nahen Osten und in Europa stärker zurückziehen wollte. Wer unsentimental auf Obamas Regierungszeit zurückblickt, wird schnell feststellen: Schon er war wenig an Europa interessiert.

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Inzwischen ist klar: China ist der neue technologische und ökonomische Wettbewerber der USA, nicht mehr Russland. Längst gibt es einen neuen Kalten Krieg. Und nicht nur Trump und seine Republikaner fordern von uns Europäern und besonders von uns Deutschen Gefolgschaft. Bisher war die westliche Partnerschaft trotz der Führungsmacht USA etwas anderes.

Erst seit Trump muss man für die Zusammenarbeit mit den USA zahlen und widerspruchslos folgen. Wer das nicht tut, kann sich der Zusammenarbeit nicht mehr sicher sein. Das ist der Unterschied zwischen Trump und seinen Vorgängern: Für Trump ist die Welt eine Arena, in der der Stärkere sich durchsetzt. Das zerstört den eigentlichen Multiplikator amerikanischer Macht: die Fähigkeit zu Bündnissen. Denn die unterschied die USA von Großmächten wie China und Russland.

Europas Verhältnis zur China ist entscheidend für die transatlantische Beziehung

Was bedeutet das alles nun für unser transatlantisches Verhältnis:

1. Europa – und auch Deutschland – muss aufhören, wie das Kaninchen auf die Schlange auf die USA zu schauen. Amerika wird tun, was es für richtig hält. Mit Trump in einer zweiten Amtszeit wird es noch schwieriger werden, und selbst die Nato ist dann nicht mehr sicher. Aber auch ohne Trump werden sich die USA nicht wieder zurück entwickeln zu dem Land, das sie waren. Es wird mit oder ohne Trump weniger europäisch und mehr pazifisch werden. Nicht zuletzt wird die Mehrheit der US-Bürger in wenigen Jahren keine europäischen Wurzeln mehr haben, sondern lateinamerikanische, asiatische und afrikanische.

2. In den USA gibt es eine große Mehrheit dafür, sich aus der Rolle des „Weltpolizisten“ zu verabschieden. Also wird es mittelfristig zu einer Reduktion militärischer Präsenz im Nahen und Mittleren Osten kommen, und damit wird auch Deutschland als Operationsbasis für dies Regionen unbedeutender.

3. Wir müssen unsere eigenen Interessen definieren und klären, mit welchen politischen, wirtschaftlichen oder auch militärischen Mitteln wir unsere Idee vom Zusammenleben auf einem geeinten Kontinent erhalten und ausbauen wollen. Wir müssen beispielsweise aufhören, unsere Diskussion über die Verteidigungshaushalte entlang der Frage zu diskutieren, wie der US-Präsident die findet.

Wir müssen definieren, was für uns Europäer wichtig ist und das dann auch tun. Das Gleiche gilt im Umgang mit China. Wie will Europa verhindern, dass jedes EU-Land seine eigene Chinapolitik betreibt? Dies wird ohnehin zur Gretchenfrage unseres Verhältnisses zu den USA. Wie wir uns zu China verhalten, ist für das transatlantische Verhältnis von weit größerer Bedeutung als alle Debatten um Nato-Beiträge, Truppenreduzierungen oder Handelsfragen.

4. Im 21. Jahrhundert werden auch die USA merken, dass „bowling alone“ ein gefährliches Spiel ist. Klimaschutz, Proliferationskontrolle, Pandemiebekämpfung und viele andere globale Themen werden wir nur gemeinsam bewältigen können. Je für sich allein und ohne den anderen werden es die USA und Europa schwerer haben als zusammen. Es gibt also viele Gründe, auch in Zukunft um die transatlantische Partnerschaft zu kämpfen.

5. Das wird aber erst gelingen, wenn Europa in zentralen Fragen einig ist und auftritt. Erst dann werden wir für die USA wieder ein ernstzunehmender Partner sein. Vorher würde sich das diplomatische Verhältnis nach einer Wahl von Joe Biden sicher verbessern, wir würden wieder konsultiert und nicht nur über getroffene Entscheidungen informiert und vermutlich blieben auch die Truppenstärken So, wie sie heute sind. Aber die prinzipielle Orientierung der USA würde sich nicht verändern.

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Wir müssen uns nicht für Amerika entscheiden, denn das haben wir bereits vor mehr 75 Jahren getan. Es gibt keine „Äquidistanz“ zu den USA, China und Russland, denn letztere haben Vorstellungen vom Zusammenleben, die wir nicht teilen. Der Begriff des „Westens“ ist kein geografischer Begriff, sondern ein universell politischer. Er meint die Vorherrschaft des Rechts, die Unabhängigkeit der Justiz, die Freiheit der Presse und der Meinungen.

Die „westliche Wertegemeinschaft“ zielt auf das Individuum und seine Freiheit ab, die jedem Menschen zu eigen ist, weil er ein Mensch ist, und die von einem Staat nicht verliehen und auch nicht entzogen werden kann. Diese Freiheit ist verbunden mit Verantwortung und Solidarität füreinander.

Statt vom „Westen“ sollten wir von der „Gemeinschaft der Demokratien“ sprechen

Innerhalb einer Gesellschaft, aber auch zwischen den Ländern und Regionen, die sich dieser Idee von Freiheit und gegenseitiger Verantwortung verbunden fühlen. Deshalb wäre es an der Zeit, nicht mehr vom „Westen“ zu sprechen, sondern von der „Gemeinschaft der Demokratien“.

Europa kommt jetzt die Rolle zu, diese Vorstellung von der Verbindung der Freiheit des Individuums mit der gegenseitigen Verantwortung hochzuhalten. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt, wie die ersten Wochen der Coronakrise gezeigt haben.

Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron haben erkannt, dass es jetzt um weit mehr geht, als um finanzielle Hilfen – und dass der European Recovery Fund der Beginn ist für ein verändertes Europa.

Wenn jetzt von einer „grundsätzlich“ zu überdenkenden Haltung zu den USA die Rede ist, verbirgt sich dahinter eigentlich eine grundsätzlich veränderte Haltung zu uns selbst. Auch „dringenden Handlungsbedarf“ gibt es bei uns selbst.

Die Zeiten, in denen wir – zugespitzt formuliert – unsere Interessen auf US-Flugzeugträger projizieren konnten, sind vorbei.

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