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Europas Sozialdemokratie: Büßen für die Kapitalismuskrise

Bei der EU-Wahl ist die linke Mitte Europas abgestürzt, weil sie sich vom Wähler entfremdet hat. Helfen kann den Politikern ein Blick ins Internet.

Ein bisschen Trost gibt’s in der Not ja immer. Sogar für die SPD. Anderswo ist es noch schlimmer. In Dänemark zum Beispiel. Dort sind die Sozialdemokraten – obwohl daheim seit Jahren in der Opposition und an der Kernschmelze der Wall Street wirklich unbeteiligt – am Sonntag von rund 32 Prozent noch mal um zehn Punkte abgestürzt. Oder in Österreich: Da wurden die Genossen, obwohl sie den feschesten Kanzler seit langem stellen und mit der mächtigen "Kronenzeitung" als stillem Koalitionspartner regieren, von den EU-Wählern hinter die fad-konservative ÖVP zurück gereiht, in einigen Bundesländern sogar auf Platz drei, hinter den Anti-EU-Populisten Hans-Peter Martin.

Ganz zu schweigen von den Niederlanden: Dort liegt jetzt der Moslems-raus-Lautsprecher Geert Wilders landesweit vor der Mitte-links-Arbeitspartei auf Platz zwei und im Gegensatz zu Dänemark konnten in der Europawahl nicht einmal die linkspopulistischen "Sozialisten" von der Wählerflucht aus der Sozialdemokratie profitieren. Und dann noch Frankreich und Großbritannien: Ganz so hilflos und führungslos abgetrudelt wie die regierende britische Labour-Party und gar noch die oppositionellen französischen Sozialisten ist die SPD dann doch nicht: Notlandung mit Bruch, aber "wir leben noch", wenn auch ohne Hurra.

Mehr als Strohhalme für Ertrinkende sind das aber nicht. Wer sich dran festhält, geht erst recht unter. Dieses Debakel der traditionellen Mitte-links-Volksparteien in Europa, von Portugal bis Dänemark – Griechenland und Schweden sind insignifikante Ausnahmen – ist mehr als eine normale Niederlage in einer Wahl, bei der es "um nichts" ging. Die niedrige Wahlbeteiligung, obwohl nicht ohne Bedeutung für die Detail-Analyse, bietet für die gedemütigten Verlierer keine nennenswerte Schmerzlinderung. In allen Sprachen Europas hört man jetzt die Verliererformel: "Unsere Leute sind daheim geblieben". Aber was bringt das? Es wirkt wie Palliativmedizin, notwendig, aber keine Therapie.

Dazu braucht es eine genauere Analyse. Die Parteien der linken Mitte werden sich selbst nicht schonen und ihre eigenen Versäumnisse und Fehler nicht verschweigen dürfen. An dem populistischen Rechtsruck dieser Europa-Wahl sind die Erben der historischen europäischen Arbeiterbewegung nicht unschuldig. Natürlich unterscheiden sich die europäischen Sozialdemokraten von Land zu Land. Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, wenn Tony Blair und Gerhard Schröder das vor zehn Jahren etwas mehr bedacht hätten, als sie das ominöse Blair-Schröder-Papier samt der rituellen Anti-Gewerkschaftspassagen der Briten absegneten, weil ihnen damals die ganze Richtung in den Kram passte.

Doch im Übrigen ist es müßig, auf kulturelle und historisch gewachsene Unterschiede zwischen der PSOE in Spanien und der schwedischen Arbeiterpartei, zwischen Pasok in Griechenland und PvdA in den Niederlanden oder New Labour und dem Kontinent insgesamt hinzuweisen. Die gemeinsame Industriegeschichte und die transnationalen Demokratieprobleme haben mehr Gewicht. Die aktuellen Probleme sind durchaus vergleichbar.

Dazu gehört seit längerem die wachsende Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten, das zunehmende Desinteresse an den Parteien, die "democracy fatigue", Demokratiemüdigkeit, wie amerikanische Politologen das Phänomen bezeichnen. Die traditionellen Parteien insgesamt – nicht nur die Linksdemokraten – haben dazu selbst wesentlich beigetragen: mit ihrem Organisationsstil, ihrer kommunikativen Abgeschiedenheit, ihrer Bürgerferne, ihrer funktionärshaften "Professionalität", ihrem teilweise vordemokratischen Hoheitsanspruch und, vor allem bei schweren Problemen, mit Ungenauigkeit, Unaufrichtigkeit, Feigheit und Abwehrhaltung.

Die Folge - nämlich den Vertrauensverlust der Bürger gegenüber den Parteien als Agenturen der repräsentativen Demokratie - ist längst bekannt und rauf und runter diskutiert. Aber ebenso lange haben die Parteien sich dieser Einsicht in die eigene Rolle als Teil des Problems verschlossen. Und wenn die Sozialdemokratin Gesine Schwan öffentlich darauf hinweist, huch!, dann nehmen ihre Parteifreunde es ihr übel.

Vielleicht sollten sie, bevor sie vor schlechten Nachrichten warnen – Motto: schuld an bad news ist immer deren Überbringer – einmal ins Internet schauen. Nicht nur zu Wahlzeiten, um "die jungen Wähler" zu locken, sondern so richtig, um was zu lernen. Das Netz besuchen und in die Tiefen, um nicht zu sagen: Abgründe hinab steigen und sich darin umsehen. Dort können sie, wie im alten Märchen vom dem einen, der auszog das Gruseln zu lernen, die schrille Vielfalt an Politiker- und Demokratieverachtung besichtigen, zu der sie selbst beigetragen haben.

Sie finden da den ungeschminkten Beleg für die Zweifel der Bürger an der Effizienz der Demokratie bei der Lösung der Probleme der Gegenwart. Und begegnen darüber hinaus, zwischen allerlei unreflektiertem aggressivem Stimmengewirr, auch den Konsequenzen von Frustrationserfahrungen und darauf fußender Verhetzung, nämlich einer schroffen Ablehnung der Demokratie als Regierungsform überhaupt.

Da kam uns die Kapitalismuskrise grade recht. Die Sozialdemokraten meinten zwar, das sei ihre Stunde. Und für ein paar Wochen haben sie dort, wo sie an der Regierung waren, auch davon profitiert. Der "starke Staat" gewann kurzfristig Popularität, einen Herbst lang. In Holland zum Beispiel, wo ihr Parteivorsitzender Wouter Bos zumindest persönlich als Krisenmanager im letzten Quartal 2008 an Popularität zulegte, was neben dem langweiligen und hilflos wirkenden christdemokratischen Regierungschef Balkenende eigentlich auch nicht schwer gewesen sein sollte. Oder in Deutschland, wo Peer Steinbrück zumindest im politischen Milieu eine Zeit lang Pluspunkte bekam (neben Angela Merkel, die zwar nie besonders kompetent, aber auch nie so richtig hilflos wirkt).

Aber diese kurze Zeit der Anerkennung ist vorbei. Büßen für die Krise des Kapitalismus und die Fehler der Kapitalisten müssen vor allem die regierenden Sozialdemokraten, und zwar dafür, dass sie den Bankern, Versicherungen und Auto- und Kaufhausmanagern im Sanierungsgeschäft unter die Arme greifen, statt sie für deren arbeitsplatzvernichtenden Fehlspekulationen und Fehlinvestitionen öffentlich zu teeren und zu federn. Paktieren mit den Schuldigen, heißt das.

Den Konservativen, von Sarkozy über Merkel bis Berlusconi, und den unverbesserlichen Neoliberalen, von Guido bis Westerwelle, nimmt man das nicht übel, umso mehr aber den Sozialdemokraten. Man straft sie mit besonderer Verachtung, per Wahlenthaltung oder Proteststimmung. Den Rest zum Aufstieg der populistischen Stimmanteile erledigt das Wahlsystem.

Gewiss, man muss nicht übertreiben: Das demokratische System funktioniert trotzdem. Der populistische Ruck durch Europa signalisiert nicht ein neues "Ende der Geschichte" und nicht den Eintritt ins postdemokratische Inferno. Aber die Entzauberung unseres immer noch funktionierenden Systems ist unter der Oberfläche im Gange. Der Wunsch nach einem Sturz der Eliten wächst in diesem Untergrund und er wird umso stärker, je mehr der Eindruck entsteht, diese Eliten sind von der gegenwärtigen Situation überfordert.

Vom amerikanischen Historiker Lawrence Goodwin stammt der in der Politikwissenschaft inzwischen gebräuchliche Begriff der "populist moment". Er meint damit den historischen Augenblick, in dem die Erfolgsbedingungen eines "Aufstands der Massen" gegen bestehende Eliten und Strukturen optimal zusammen treffen. Es braucht dann nur die Anführer, die den Moment erkennen und das Signal zum Aufbruch geben.

Den Eindruck von Ineffizienz der Demokratie und politischem Vertrauensverlust der Bürger gab es schon vor Eintritt der aktuellen Krise. Aber das gegenwärtige Zusammentreffen dieser Faktoren sieht so aus, als seien die Warnungen vor einer Legimitationskrise der Demokratie durchaus berechtigt. Die EU-Wahl signalisiert insofern einen "populistischen Moment". Die Wahlverlierer und die anderen, die vom Schlimmsten zwar offenkundig verschont blieben aber das Schlamassel alltäglich mit verschulden, sollten sich der Herausforderung stellen. (Zeit Online)

Werner A. Perger

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