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Politik: Europas Verfassung

Von Gerd Appenzeller

Oh ja, wir hören das Gemurre. Das Gegrummel über den Moloch im fernen Brüssel, der den Bauern vorschreibt, welchen Krümmungswinkel die grünen Gurken haben müssen. Der die Breite der Traktorensitze regelt und den Bauarbeitern wegen der Sonnenbrandgefahr verbieten will, im Sommer mit nacktem Oberkörper zu arbeiten. Jenes Brüssel, in dem Scharen von hoch bezahlten, arroganten Bürokraten den Politikern der 27 EU-Staaten auf der Nase herumtanzen und tun, was sie wollen, oder nichts tun.

Oh ja, das geht nun seit 50 Jahren so, exakt an diesem Wochenende. Und weil man runde Geburtstage feiern muss, wird jetzt in Berlin ein Fass aufgemacht und fallen sich Männer und Frauen in die Arme, deren Väter noch aufeinander geschossen haben. Denn die Europäische Union der krummen Gurken und der genormten Traktorensitze ist das eine, das kleine, ja, kleinkarierte Europa. Aber die Europäische Union, die einen Kontinent befriedete, von dem über Jahrhunderte hinweg ein Krieg nach dem anderen ausging, ist das andere, ist das große Europa. Das ist jenes Staatenbündnis, welches die einstigen Diktaturen Südeuropas auf dem Weg in Demokratie und Wohlstand begleitete. Das die Nationen des unter dem Druck des Freiheitsstrebens zerbröselnden Ostblocks beherzt aufnahm und ihnen damit die innere Sicherheit gab, ohne die die äußere Sicherheit der Nato nicht ihren ganzen Wert gehabt hätte.

Die Europäische Union ist an ihrem 50. Geburtstag so groß und mächtig wie nie zuvor, und wo ihre Grenzen liegen, weiß sie so wenig wie sie über ihre künftige Struktur zu einem klaren Urteil kommt. Wahrscheinlich wird sie einmal der de-Gaulle’schen Vorstellung eines Europas der Vaterländer näherkommen als einem Staatenbund nach amerikanischem Vorbild, denn an der Vielfalt in der Einheit finden die meisten Europäer mehr Vergnügen als an der Gleichheit. Europas Grenzen werden wohl künftig mehr von den Menschenrechten als von der Kulturtopografie bestimmt werden, und so hat es neben der abendländisch geprägten Ukraine die Türkei selbst in der Hand, ob sie einstmals wie wir alten Europäer auf Brüssel schimpfen darf.

Man kann auch jetzt, am Jubiläumstag, darüber streiten, in welcher Verfassung dieses Europa ist, gar, ob es eine Verfassung braucht. Die „Berliner Erklärung“ ist kein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag, sondern mehr eine Absichtserklärung. Das ist klug, denn so sieht sich keiner der Staats- und Regierungschefs in der für ihn unangenehmen Lage, etwas unterzeichnen zu sollen, dem er nicht ganz zustimmt. Aber dass Europa bis zur nächsten Parlamentswahl, 2009, gemeinsam eine neue Struktur erarbeiten muss, um regierbar zu bleiben, ist schon jetzt weitgehender Konsens. Ob dieser Pakt der Vernunft Verfassung heißen muss, darf man bezweifeln, ohne deswegen anti-europäisch gescholten werden zu dürfen. Die Briten zum Beispiel, diese Europäer weit mehr des Verstandes als des Herzens, kommen bis heute ohne eine geschriebene Verfassung aus – warum sollten sie sich auf eine europäische einlassen? Der Verfassungsvertrag, den 18 Staaten bereits ratifiziert hatten, bevor ihn die Franzosen und die Niederländer in Volksabstimmungen ablehnten, hat in der deutschen Übersetzung mit allen Protokollen fast 500 Seiten Umfang. Da lässt sich der Verdacht kaum aus der Welt schaffen, die Langatmigkeit könne Ausdruck mangelnder Entschlossenheit gewesen sein.

In Berlin wird nun gefeiert. In einer Stadt, in einem Land, die auch deshalb wieder vereint sind, weil Europa sich einig war. Europa ist eine friedliche Großmacht, die sich anschickt, die Welt nicht nur für ihre Waren, sondern auch für ihre Werte zu interessieren. Respekt vor dem Nächsten, Achtung der Menschenrechte, vor allem aber Toleranz stehen da ganz obenan. In diesen Tagen wird darüber geredet, ob Helmut Kohl, in der Tat ein großer Europäer, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen werden sollte. Ohne seine Verdienste zu schmälern: Den Preis verdient hätte in erster Linie die Europäische Union selbst. Natürlich hat sie ein paar Fehler. Aber wer ist davon schon frei? Wir haben doch alle Familie.

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