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In Deutschland und den meisten anderen EU-Ländern wird am Sonntag das Europaparlament gewählt.

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Europawahl: Bürger und ihre EU - eine Vernunftbeziehung

Die Bürger lieben die EU nicht. Aber sie akzeptieren das Gebilde, das im letzten halben Jahrhundert gewachsen ist. Für den Tagesspiegel beschreiben neun Prominente, wie ihr Traum von Europa aussieht.

Wäre Europa eine Vorabendserie, würde der Abspann der aktuellen Folge den Zuschauer mit einem mulmigen Gefühl zurücklassen. Wie stark werden die Populisten künftig im Europaparlament? Sinkt die Wahlbeteiligung bei der Europawahl weiter? Stehen Europa Chaos-Tage bevor, weil die Staats- und Regierungschefs sich weigern, den Luxemburger Jean-Claude Juncker oder den Deutschen Martin Schulz auf den Schild des EU-Kommissionspräsidenten zu heben?

Wäre Europa eine Casting-Show, dann könnte man schon jetzt der nächsten Folge entgegenfiebern. Fliegt Großbritannien raus, weil die Briten dies bei ihrem Referendum 2017 mehrheitlich selbst so beschließen? Es muss nicht so kommen, zumal laut Umfragen die Mehrheit der Briten weiter in der EU bleiben will. Aber eines ist sicher: Angesichts der Erfolge der europafeindlichen Ukip-Partei in Großbritannien wird das Verhältnis zwischen der Insel und dem Kontinent in den nächsten Jahren nicht einfacher werden.

Wäre Europa ein Roman, so stünde sein Ende nicht fest. Erfüllt sich der Traum, dass sich die Europäer ihren way of life bewahren, während China als autoritäre Weltmacht aufsteigt und das Russland von Wladimir Putin die Forderung nach einer universellen Durchsetzung von Menschenwürde und Demokratie vom Tisch wischen kann – dank der Machtposition als Gaslieferant der EU?

Die großen Zukunftsfragen werden von vielen entschieden

Das Schöne an Europa ist, dass die Bürger selber dabei mitentscheiden können, wie die Geschichte weitergeht. Bei der Wahl zum Europaparlament an diesem Sonntag können sie darüber bestimmen, welche Kräfte in Straßburg und in Brüssel in den kommenden fünf Jahren prägend sein werden. Die großen Zukunftsfragen – Gestaltung der Währungsunion, Heranführung der Ukraine, Datenschutz – werden von vielen entschieden: den Regierungschefs der Nationalstaaten, den nationalen Parlamenten in Berlin, Paris und Warschau, aber eben zu einem Gutteil auch vom Europaparlament.

Wäre Europa ein Graffiti, das von den nachkommenden Generationen immer wieder neu übersprüht wird, dann würde man darin etliche Farbschichten entdecken. Ganz unten liegen – längst verdeckt – die leuchtenden Farben der Gründungsväter. Schlagbäume wurden nach dem Zweiten Weltkrieg niedergerissen, der Traum von einem friedlich zusammenwachsenden Europa leuchtete in blau und gelb. Dann kamen die Jahre des Binnenmarktes und des Euro. Es waren Jahre wirtschaftlichen Wohlstands, aber im Europa-Bild tauchten die ersten Grautöne auf. Viele EU-Bürger fragten sich: Europa funktioniert zwar als Wirtschaftsgemeinschaft, aber wo bleibt die demokratische Kontrolle?

Auf viele EU-Bürger wirkt Europa grau in grau

Unbeantwortet blieb dabei die Frage, was aus der EU eines Tages werden soll: Ein Bundesstaat? Ein Binnenmarkt, für dessen demokratische Kontrolle allein die Nationalstaaten maßgeblich sind? Die Franzosen und die Niederländer beantworteten die Frage 2005 auf ihre Weise: mit einem „Nein“ zu einer allzu tief gehenden politischen Integration. Es folgten Urteile des Verfassungsgerichts, Abstimmungen im Bundestag über Rettungspakete, ein verpflichtender europäischer Fiskalpakt gegen das Schuldenmachen, kurzum: ein Schwebezustand zwischen nationalstaatlicher und europäischer Zuständigkeit. Allerdings fesseln Debatten über Europas Zukunft nicht gerade die Massen. Auf viele EU-Bürger wirkt Europa grau in grau. Eine Mehrheit akzeptiert zwar das europäische Gebilde, das im letzten halben Jahrhundert gewachsen ist. Aber weiter geht die Europa-Zuneigung auch nicht.

An dieser Gleichgültigkeit hat der Europawahlkampf nicht viel geändert. Aber er hat doch vor allem eines gezeigt: Die EU-Bürger haben Zweifel, ob in Brüssel auch künftig noch absolute Marktfreiheit das oberste Gebot sein sollte – darauf weisen die drängenden Fragen zum Freihandelsabkommen mit den USA hin, die die Spitzenkandidaten Schulz und Juncker zu parieren hatten. Wohlstand und Demokratie, beides soll möglich sein. Das bleibt der große Zukunftstraum Europas.

Für den Tagesspiegel beschreiben neun Prominente, wie ihr Traum von Europa aussieht:

Speerwerferin Obergföll und ihre Vision von Europa

Christina Obergföll
Christina Obergföll

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Die deutsche Speerwerferin Christina Obergföll wünscht sich ein Europa, in dem es keine sichtbaren Differenzen mehr zwischen ärmeren und reicheren Staaten gibt:

"Europa ist ein faszinierender Kontinent, der sehr vieles zu bieten hat: Dabei denke ich an wunderschöne Länder und Landschaften, tolle Städte mit viel Geschichte und Kultur, aber auch die unterschiedlichsten Sprachen und Religionen. Dazu gehören natürlich auch unsere einheitliche Währung und die unkomplizierte Art der Einreise in andere EU-Nationen, die ich gerne mit einem gemeinsamen Europa verbinde. Politisch verfolge ich die EU seit den vergangenen Monaten verstärkt, insbesondere aufgrund der angespannten Situation auf der Krim und wegen des EU-Wahlkampfes. Hier würde ich mir in Zukunft etwas mehr Transparenz wünschen, damit eine größere Identifikation denkbar ist. Denn es werden immer mehr Themen nicht national, sondern auf EU-Ebene entschieden. Von Interesse ist hier für mich insbesondere die wirtschaftliche Stabilität. Dabei würde ich mir von den Politikern mehr Weitsicht bei der Aufnahme weiterer Nationen in die EU wünschen. Dies wäre gleichbedeutend mit dem Wunsch, in zehn oder 20 Jahren keine sichtbaren Differenzen mehr zwischen ärmeren und reicheren EU-Nationen zu erkennen und ein gemeinsames, starkes Europa vorzufinden."

DGB-Chef Reiner Hoffmann: EU muss gutes Leben für alle sichern

DGB-Chef Hoffmann
DGB-Chef Hoffmann

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DGB-Chef Reiner Hoffmann hofft, dass Europa seine neoliberalen Irrtümer erkannt hat:

"In meinem Traum von Europa ist es selbstverständlich, dass Europa sozial ist – viel sozialer als jetzt. Das Europa meiner Träume ermächtigt die Menschen, in Würde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Frieden sowie Sicherheit (auch der persönlichen Daten) da leben zu können, wo sie wollen. In Aalen genauso wie in Zagreb. Europaweit gelten gute, verbindliche Standards, die einen Wettbewerb nach unten verhindern – ob bei Löhnen, Steuern oder Arbeitsbedingungen. Alle Bürger/innen in Europa können ein selbstbestimmtes Leben mit guter Arbeit und genug Zeit für Familie, Freunde und vielfältige Interessen führen.

Es ist ein Europa des sozialen Fortschritts, dessen Politik nicht daran gemessen wird, wie viel oder wie wenig Rechtsetzung Brüssel beschließt. Wichtiger ist, ob die europäische Politik die richtigen Initiativen ergreift, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen zu verbessern und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.

Zu meinem Traum von Europa gehört die Gewissheit, dass Demokratie und Mitbestimmung nicht am Werkstor oder der Bürotür enden. In dieser sozialen Marktwirtschaft mit 500 Millionen Menschen werden Arbeitnehmer- und Beteiligungsrechte als Vorteil und nicht als bürokratische Hürde oder Nachteil begriffen. Das Europa meiner Träume ist Weltmarktführer in guten Arbeitsbedingungen und Vorbild auf dem Weg einer gerechten Globalisierung. Und in diesem selbstbewussten Europa sichern Investitionen in Bildung, öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur seine Innovations- und Wirtschaftskraft. Alle tragen dazu bei, das notwendige Geld dafür aufzubringen und die richtigen Vorhaben anzuschieben – jedes Land nach seinen Möglichkeiten.

Das Europa meiner Träume ist ein politisches Projekt, mit starken Grundrechten, um die uns viele in der Welt beneiden. Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – das sind seine Grundfesten. In meinem Traum hat Europa seine neoliberalen Irrtümer erkannt und aus seinen Fehlern gelernt. Die Bürger/innen Europas haben wieder Vertrauen gefasst und sich engagiert eingemischt, um die Europäische Union auf diesen neuen Weg zu bringen. Europa, das ist für die Europäer/innen wieder mehr als die EU, ihre Institutionen und komplexen Verfahren. Europa ist wieder Hoffnungsträger und es übernimmt global Verantwortung. Ich werde alles geben, damit dieser (europäische) Traum Wirklichkeit wird."

Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper, setzt auf Kulturpflege

Der Intendant der Komischen Oper, Barrie Kosky.
Der Intendant der Komischen Oper, Barrie Kosky.

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Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper, hält viel von Balance: Es gelte, die eigene Kultur zu schätzen, ohne sie über andere Kulturen zu stellen:

"Ich bin ein Australier mit europäischen Wurzeln – 99 Prozent der Einwohner auf unserer Insel sind eingewandert – und ich liebe es, die Vielfalt zu feiern. Meine Identität ist kosmopolitisch, aber ich mag es auch, wenn jemand sagt: „Ich komme aus Deutschland, das ist meine Kultur, das sind meine Traditionen, doch ich respektiere ebenso die anderen Kulturen, lerne vielleicht sogar von ihnen.“ Um so handeln zu können, muss man allerdings erst einmal mit sich und seiner Herkunft im Reinen sein. Dann kann man sich auch am Fremden erfreuen. So funktioniert Respekt, und das ist eine Utopie von Europa.

Keiner kann die Vergangenheit in einen Schrank packen und sagen: Ab jetzt bin ich nur noch Europäer. Darum bleibt es eine Utopie, dass die ganze europäische Mischpoke zusammenkommt, sich an den Händen nimmt, einen großen Kreis bildet und ruft: „Jetzt sind wir eine Familie!“ Nein, die Balance ist wichtig: Die eigene Kultur zu schätzen, sie aber nicht über andere Kulturen zu stellen. Damit die kulturelle Bouillabaisse gut schmeckt, muss eben jede Zutat authentisch sein. Darum plädiere ich beispielsweise auch dafür, beim Eurovision Song Contest die Regeln zu ändern. Die Interpreten müssten verpflichtet werden, wieder in ihrer eigenen Sprache zu singen – statt in schlechtem Englisch.

Beim Song Contest haben wir in diesem Jahr gesehen, wie eine Veranstaltung, derer die Leute eigentlich schon müde waren, durch das Publikum selber eine neue Relevanz erlangen kann. Das könnte bei der Europawahl ebenso funktionieren, wenn die jungen Leute sich entschließen mitzumachen. Meine Generation ist wohl für die Politik verloren. Wir Babyboomer haben es vielleicht einfach zu leicht im Leben gehabt, um wirklich politisch zu sein. Die heute 20-Jährigen aber sehen sich mit existenziellen Problemen konfrontiert: der Arbeitslosigkeit, der Wirtschaftskrise. Da kann man doch gar nicht unpolitisch bleiben! Engagement wird aus Wut und Frustration geboren. Das ist meine Hoffnung: Diese Generation wird unsere Rettung sein."

BUND-Chef Hubert Weiger hofft auf einen Mehrwert für die Umwelt

BUND-Chef Hubert Weiger
BUND-Chef Hubert Weiger

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Der Chef des Bundes für Umwelt und Naturschutz Detuschland (BUND), Hubert Weiger, träumt von einem Europa der Nachhaltigkeit:

"In meinem Traum von Europa wird Nachhaltigkeit tatsächlich gelebt. Grenzüberschreitend und geleitet von Vernunft und Voraussicht statt vor allem von wirtschaftlichen Interessen und Profitzwängen. Ich träume von einer europäischen Gesellschaft, die anerkennt, dass wir in einer Welt mit begrenzten natürlichen Ressourcen leben.

In diesem Europa werden Lebensmittel ökologisch und regional produziert. Sie stammen nicht aus Agrarfabriken, sondern von Bauernhöfen. Die Landwirte werden entsprechend ihrer Leistungen für ihre Produkte angemessen bezahlt. Dieses Europa ist frei von Genmais und Massentierhaltung und soweit wie möglich auch von Pestiziden. Mein Europa macht sich für eine global gerechte Ernährungspolitik stark, die aggressive exportorientierte Agrar- und Fleischproduktion ist längst Vergangenheit.

In meinem Traum hat sich Europa auch von der Atomkraft verabschiedet und den CO2-Ausstoß drastisch gesenkt. Durch eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz und des Ausbaus der erneuerbaren Energien konnte Europa dazu beigetragen, die weltweite Erwärmung auf unter zwei Grad zu halten.

Und wenn ich von Europa träume, leben da Tiere und sprießen da Pflanzen, die wir schon fast verloren glaubten. Da fühlt sich der Eisvogel wohl in unversehrten Flussauen, Wildkatzen und Luchse streifen durch miteinander verbundene Wälder und ich sehe Wildbienen auf Wiesen, die nicht mehr der intensiven Landwirtschaft zum Opfer fallen. Und dann mache ich die Augen auf und sehe: Mein Traum ist bedroht. Skeptiker zeichnen ein schiefes Bild von der EU als Regelungsmonstrum, das sich vor allem von Banken und Konzerninteressen leiten lässt. Sicher läuft einiges schief, auch in der EU. Das zeigen die Zulassung des Gentechnik-Mais „Pioneer“ oder die Verhandlungen zwischen den USA und der EU über ein Freihandelsabkommen, das unsere Standards gefährden könnte.

Doch viel deutlicher sehe ich die Erfolge der EU: Gemeinsame Umwelt- und Verbraucherstandards, mehr Bürgerbeteiligung sowie grenzüberschreitende Naturschutzgebiete und das „Grüne Band Europa“ – ein BUND-Projekt entlang des früheren Eisernen Vorhangs. Europäische Kooperation kann einen großen Mehrwert für Mensch und Natur bedeuten. Dieses Europa darf kein Traum bleiben."

Erzbischof Reinhard Kardinal Marx sieht Europa als Friedens-Union

Reinhard Kardinal Marx
Reinhard Kardinal Marx

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Der Münchener Erzbischof Reinhard Kardinal Marx hält die Friedens-Errungenschaft der EU für alles andere als selbstverständlich:

"Europa als freier Bund von Staaten ist eine starke politische Leistung. Europa ist aber als Wirtschafts- und Solidargemeinschaft mehr als das Angebot finanzieller Rettungsschirme oder durchsetzungsstarker Solidarität nach innen wie nach außen. All das gibt es nur wegen gemeinsamer Überzeugungen und Werturteile. Diese haben ihren Grund im christlichen Menschenbild: Jeder Mensch ist Bild Gottes und hat eine unantastbare Würde! Dies sollte in Europa bewusst bleiben oder neu bewusst werden. Deshalb sind christliche Ziele und Haltungen in der europäischen Politik auch heute wichtig.

Dabei denke ich vor allem an eine gemeinsame Friedensordnung zwischen den Staaten. Wo einst verfeindete Völker waren, ist eine Friedensunion gewachsen. Das ist alles andere als selbstverständlich, wie jeder Blick auf die politische Landkarte der großen und kleinen Kriege unserer Tage lehrt. Wenn wir in diesem Jahr an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 und des Zeiten Weltkriegs vor 75 Jahren erinnern, mahnt dieses Gedenken, die Chancen eines Friedens nicht zu verschlafen. Jean Monnet, der „Vater Europas“, hat Europa als „Beitrag für eine bessere Welt“ bezeichnet. Was Hass, Gewalt und Vertreibung durch zwei sinnlose Kriege zerstört haben, ist in einem neuen Europa nach und nach wieder aufgewachsen. Und das ist eine einmalige Leistung, auf der wir uns aber nicht ausruhen dürfen.

Europa ist nicht die bessere Welt, sondern – wie es Monnet sagt – ein Beitrag für eine bessere Welt. Das bedeutet: Europa trägt Verantwortung in der Welt. An ihr haben die Europäer teil: Grenzen überwinden, Gemeinsames in Wirtschaft und im gesellschaftlichen Miteinander fördern. Dafür ist ein Europa der Bürger verantwortlich! Gerade deshalb ist Europa verpflichtet, sich klug und entschieden in internationalen Konflikten zu engagieren und Lösungen für den Frieden anzubieten. Das gilt auch für das derzeit heftig diskutierte TTIP.

Vor fast 15 Jahren prägte Johannes Paul II. das Wort: „Wenn man ‚Europa‘ sagt, soll das ‚Öffnung‘ heißen.“ Eine großartige Aussage! Europa sollte weiter offen sein für neues Denken, andere Kulturen, für eine Weiterentwicklung unserer Welt auf mehr Gerechtigkeit, Frieden und Miteinander der Völker hin. Die Geschichte zeigt, dass das kein Traum bleiben muss."

Der Sozialwissenschaftler Tilman Spengler plädiert für Europas Werte

Tilman Spengler
Tilman Spengler

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Der Publizist Tilman Spengler plädiert für Europas Werte und die Hilfe für die Opfer weltweiter Konflikte:

"Allein der Gedanke, dass die Namensgeberin unseres Kontinents aus dem heutigen Syrien entführt wurde, sollte uns Anlass zum Nachdenken geben. Etwa darüber, wie wir hierzulande mit Konflikten und mit ihren Opfern umgehen. Europa begann mit dem Schwindel und dem Raub eines lüsternen Götterkönigs, kein glücklicher Gründungsmythos. Und gewiss eine Warnung an die allzu Gutgläubigen und Selbstgerechten vor kulturellem Hochmut. Hier begann das helle Nachdenken über den Sinn unserer Existenz, auf diesem Kontinent wurden aber auch mehr finstere Gräueltaten verübt, als Dichter sich erdenken konnten. Das müssen wir als Vermächtnis bewahren.

Der Gedanke an Europa wird das Böse nicht aus der Welt schaffen. Er kann und wird aber jene bestärken, die das Gute zu bewahren versuchen, weil sie wissen, dass man so handeln muss, als ob es möglich wäre, dass man so denken muss, als sei dies ein rationales Problem und dass man so schreiben muss, als wären die Gebote einer Erziehung der Herzen allgemeingültig. Auch das ist eine europäische Tradition, recht besehen ist sie die allerbeste."

Der Beitrag ist Teil eines Manifests, das 31 Schriftsteller aus 25 europäischen Ländern auf der  Europäischen Schriftstellerkonferenz in Berlin verfasst haben.

Bayerns Ex-Ministerpräsident Stoiber fordert weniger Bürokratie

Edmund Stoiber
Edmund Stoiber

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Edmund Stoiber leitet in Brüssel eine hochrangige Arbeitsgruppe zum Bürokratieabbau. Er wünscht sich ein Europa, das sich nicht im Klein-Klein verzettelt:

"Europa ist ein Traum. Hätte vor 100 Jahren eine Europäische Union mit ihren Mechanismen zur Konfliktbewältigung zwischen Deutschland, England und Frankreich existiert? Dann hätte es den 1. Weltkrieg und die folgenden Albträume des 20. Jahrhunderts mit 60 Millionen Toten wohl nicht gegeben. Ich träume heute von einer EU, die ihre Gründungsidee nicht vergisst und sich wieder als Friedens- und Sicherheitsunion begreift. Europa ist mehr als ein Binnenmarkt! Die Situation an der EU-Außengrenze in der Ukraine und die Konfrontation mit Russland erinnern uns daran in dramatischer Weise. Ich träume von einer EU als einer Wertegemeinschaft: Unantastbare Menschenwürde, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit, Willkürverbot – unsere großen europäischen Werte sind im Weltmaßstab leider eine absolute Minderheitenposition. Wenn sich die – schrumpfenden – 500 Millionen Europäer nicht zusammentun, werden unsere Werte in einer bald auf neun Milliarden Menschen wachsenden Welt keine bedeutende Rolle mehr spielen. Wenn sich die Europäer nicht zusammentun, dann werden andere die politischen und ökonomischen Spielregeln bestimmen. Diese Spielregeln werden dann nicht so sein, wie wir uns das vorstellen. Ich träume von einer EU, die neuen Weltmächten wie Google etwas entgegensetzt. Wir brauchen europäische Datenschutzstandards, an die sich jeder halten muss, der in Europa Geschäfte machen will. Das geht nur mit der geschlossenen Marktmacht der EU. Aber es ist höchste Zeit, sonst wird der gläserne, vermarktete Mensch endgültig und unumkehrbar Realität! Ich träume von einer europäischen Politik, die alle Weichen darauf stellt, dass wir wie in der Industrialisierung auch in der Digitalisierung endlich Gestalter werden und nicht nur Nutzer asiatischer Hardware und amerikanischer Software. In der Luftfahrt beim Airbus war die Etablierung eines europäischen Gegengewichts möglich, warum nicht in der Digitalisierung? Und ich träume von einer EU, die diese und weitere große Fragen beherzt anpackt und sich nicht im Klein- Klein von Detailregelungen verzettelt. Fast sieben Jahre habe ich das in meinem Ehrenamt zum Bürokratieabbau gepredigt. Ich sehe Anzeichen für ein neues Denken, wenn die EU-Kommission jetzt ihren gesamten Rechtsbestand daraufhin überprüft. Und sich weigert, auf Initiativen aus der Wirtschaft den rutschfesten Boden für Friseure oder das geschlossene Olivenölkännchen europaweit einheitlich vorzuschreiben. Das Große tun, das Kleine lassen – dann kann der Traum von Europa wieder neu gelebt werden!"

Der ARD-Fernsehjournalist Rolf-Dieter Krause will starke Politiker

Rolf-Dieter Krause
Rolf-Dieter Krause

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Der ARD-Fernsehjournalist Rolf-Dieter Krause wünscht sich ein Ende der Praxis, wonach die Staats- und Regierungschefs jeweils einen - möglichst schwachen und leicht lenkbaren - Politiker aus ihren Reihen zum EU-Kommissionschef machen:

"Ich träume selten völlig jenseits der Realität. Daran mag es liegen, dass das Europa meiner Träume jedenfalls im Grundsatz nicht viel anders ist als das, was wir haben. Das Wichtigste hat es doch erreicht: Wir tragen unsere natürlich immer noch vorhandenen Konflikte statt auf dem Schlachtfeld am Verhandlungstisch aus, nicht selten genau so erbittert zwar, aber doch zivilisiert. Und den Fähigkeiten deutscher Unternehmer, Erfinder, Handwerker oder Facharbeiter bietet es breiten Raum, um Erfolge einzufahren. Sie alle, wir alle brauchen dieses Europa so, wie ein Fußballer den Fußballplatz braucht, um sein Können zu entfalten. Ich weiß schon: Manche träumen davon, Europa noch einmal neu, gewissermaßen am Reißbrett entwerfen zu können. Aber die gibt es nicht nur in Deutschland, es gibt sie auch in Dänemark, Frankreich, Polen und sonst wo, und vermutlich würde ihr Reißbrett-Europa ganz anders aussehen als meins. Wenn wir uns zusammenraufen wollten, dann würden wir vermutlich bei dem Europa landen, das wir haben. Natürlich ist das nicht perfekt, natürlich ist das manchmal mühsam. Aber wieso soll denn ausgerechnet Europa vollkommen oder leicht sein, wo dies doch keiner unserer Nationalstaaten schafft? Die Verbesserungsvorschläge meiner Träume beziehen sich auf konkrete Details. Mich würde freuen, wenn es gelänge, nicht mehr einen ehemaligen Regierungschef an die Spitze der EU-Kommission zu setzen, und zwar regelmäßig einen der schwächsten, damit der aus Berlin oder Paris möglichst leicht fernzulenken ist. Stattdessen lieber einen Chef, der Stärke beziehen kann aus der Unterstützung, die ihm „sein“ Parlament verschafft.

Die Beamten der Kommission sollen gut bezahlt werden, aber nicht mehr so gut: Sie wären dann den Problemen normaler Menschen nicht mehr ganz so sehr entrückt.

Auch hätte ich gern, dass Europa sich endlich wirklich auf das beschränkt, was nur Europa tun kann. Das ist mehr, als manch einer denkt, aber weniger, als Europa derzeit tut. Der Glaube von vielen in Brüssel, für das Glück der Europäer in nahezu allen Lebensbereichen verantwortlich zu sein, ist einfach nur vermessen. Ach ja: Ich träume davon, dass wir alle in Europa uns endlich einmal darüber verständigen, was eine Regel, was eine Vorschrift ist: Etwas, das man befolgen muss, oder etwas, das eher der unverbindlichen Orientierung dient. Denn unsere EU entsteht ja erst durch gemeinsames Recht, durch gemeinsame Regeln also. Da wäre es schon hilfreich, wenn wir ein gemeinsames Verständnis davon hätten."

Für die Publizistin Carolin Emcke hat Europa einen bestimmten Klang

Carolin Emcke
Carolin Emcke

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Für die Publizistin Carolin Emcke hat Europa einen ganz bestimmten Klang:

"So stelle ich mir Europa vor: Es gibt eine Partitur, die besteht aus der Verfassung, aus den festgeschriebenen Gesetzen und Rechten, es gibt eine Geschichte, aber sie ist nicht abgeschlossen, und es steht nicht geschrieben, wer sie aufführt. Wie dieses Europa klingt, wird sich ändern, je nachdem, welche Instrumente es aufführen, und doch wird es immer der Klang Europas bleiben."

Der Beitrag ist Teil eines Manifests, das 31 Schriftsteller aus 25 europäischen Ländern auf der  Europäischen Schriftstellerkonferenz in Berlin verfasst haben.

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