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Martin Schulz

© Reuters

Europawahl: Martin Schulz - Polarisierer mit lockerem Mundwerk

Worum geht es dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Martin Schulz? Vor allem um Martin Schulz, sagen die einen. Um Europa, sagen andere.

Niemand nimmt Notiz von der schwarzen Limousine mit Luxemburger Kennzeichen, die auf dem Edeka-Parkplatz in Bornheim bei Bonn abgestellt wird. Der Präsident des Europaparlaments nutzt eine zwanzigminütige Pause zwischen zwei Terminen für einen kleinen Snack. Dann sackt er kurz in sich zusammen. „Ich“, entfährt es ihm, „bin so kaputt.“ Plötzlich beugt sich die Frau vom Nebentisch herüber: „Sie sind doch der Herr Schulz von der EU, oder?“

Frust und Freude

Frust und Freude liegen nah beisammen in diesem Europawahlkampf, der nicht nur zwischen Flensburg und Füssen, sondern erstmals zwischen Lissabon und Tallinn, London und Thessaloniki stattfindet. Er zehrt an den Kräften. „Ein Familienleben gibt es in dem Job nicht – im Wahlkampf schon gar nicht“, sagt Martin Schulz, Spitzenkandidat der deutschen SPD und aller Sozialisten Europas. Ohne das Verständnis seiner Frau und der beiden mittlerweile erwachsenen Kinder ginge es nicht. Der Wiedererkennungseffekt beim Wähler putscht ihn auf – auch wenn es nur im heimischen Rheinland ist. Wie aus der Pistole geschossen hat er seine Bekanntheitswerte parat. „73 Prozent der Bundesbürger kennen mich“, berichtet Schulz, „für einen Europapolitiker ist das Rekord.“

In Umfragen gleichauf

Der Mann ist ehrgeizig, strebt nun den wichtigsten Posten an, den die Europäische Union zu vergeben hat, das Präsidentenamt der EU-Kommission, die alle Gesetze für Europa entwirft. Die Chancen stehen so schlecht nicht, Christ- und Sozialdemokraten liegen in Umfragen etwa gleichauf. Und auch in den bisherigen Fernsehdebatten hat Schulz keine schlechte Figur gemacht und häufig agiler gewirkt als sein christdemokratischer Gegenspieler Jean-Claude Juncker aus Luxemburg – wenn auch nur wenige zugeschaut haben. Am Donnerstagabend jedenfalls, als die italienische Moderatorin ihn fragt, ob die Sache mit den fünf auf dem Podium versammelten europäischen Spitzenkandidaten nicht doch scheitern und der EU-Gipfel am Ende doch einen anderen Personalvorschlag machen werde, wirkt der Deutsche regelrecht aufgedreht. „Der nächste Präsident der Europäischen Kommission steht hier auf dieser Bühne“, sagt Schulz, „und Sie reden gerade mit ihm.“

Den Ausschlag für seine Kandidatur, erzählt er, habe die Krise gegeben, während der er oft gedacht habe, es besser hinbekommen zu können. Er schrieb ein Buch und tat dies „innerlich mit dem Ziel herauszufinden, ob ich ein Programm habe, wie man die EU verändern kann“. Als klar wurde, dass die Parteien zum ersten Mal eben jene Spitzenkandidaten für den Brüsseler Topjob nominieren würden, warf er seinen Hut in den Ring – in einer Art und Weise, dass nicht einmal am Horizont ein Gegenkandidat in Sicht war.

Einfache Geschichten

Es ist ein Abend Anfang Januar, als er zum ersten Mal vorführt, wie er die Wahl zu gewinnen gedenkt. Der Neujahrsempfang der SPD-Gruppe im Europaparlament gerät zur Generalprobe. Abgeordnete und Journalisten sind ins schicke Bellevue-Museum direkt neben dem Brüsseler Königsschloss eingeladen, teils langjährige Weggefährten, mit denen bei solchen Events normalerweise der neuste Polittratsch ausgetauscht wird. Schulz aber testet nach einer spöttischen Bemerkung über das luxuriöse Ambiente seine Geschichte, mit der er die Menschen überzeugen will. Stets erzählt er Beispiele aus seinem Leben, einfache Geschichten, die für etwas Größeres stehen, das auch andere kennen.

Mit 24 Jahren, so berichtet der 58-Jährige bei dieser Gelegenheit, „war ich in der Gosse gelandet“. Alkoholabhängig, isoliert, eine Räumungsklage am Hals, den Traum von der Fußballerkarriere verletzungsbedingt begraben. Es ist seine wichtigste Botschaft: Ich bin kein entrückter Eurokrat, sondern einer von euch und „weiß, wie das Leben ist, wenn man nicht in den Höhen der EU-Institutionen schwebt“. Mit über seine Erfolgschancen dürfte entscheiden, ob die Wähler ihm das abnehmen oder ihn nach 20-jähriger Abgeordnetentätigkeit in Brüssel nicht doch als Teil des so kritisch beäugten EU-Systems wahrnehmen. Er redet weiter von den „Anliegen der normalen Bürger“. Im Dreiländereck Deutschland-Belgien-Niederlande aufgewachsen, erzählt Schulz, wie ihm „Europa in die Wiege gelegt wurde“, und vom Vater, der sich erst im hohen Alter einmal Urlaub leistete, da es die Kinder besser haben sollten. „Wir fanden das spießig“, gesteht der Sohn. Nun ist es sein zentrales Motto: „Früher brachten die Menschen Opfer für ihre Kinder, heute für die Banken. Und die Kinder sind arbeitslos.“

Blick auf den Schwarzwald

Von seinem Büro im 15. Stock des Straßburger Parlamentsbaus ist der Schwarzwald zu sehen. Hier versucht Martin Schulz zu erklären, was ihn antreibt. Er kennt die Geschichten vom „Mann auf der Suche nach Anerkennung, weil in jungen Jahren sein Leben in Trümmern lag“, wie er eine Charakterisierung des „Spiegel“ zusammenfasst. „Ich lese so etwas mit Interesse“, erzählt der deutsche Obereuropäer, „aber das ist nicht meine eigene Wahrnehmung.“ Die handelt mehr von politischen als unerfüllten persönlichen Ambitionen. „Der Nachholbedarf war für mich schon gedeckt, als ich mit 31 jüngster Bürgermeister aller Zeiten einer 1200 Jahre alten Stadt wurde.“ Trotzdem reicht ihm nach dem Rathauschefsessel in Würselen bei Aachen, seiner Heimatstadt, nun nicht mehr, Europas erster Parlamentarier zu sein. „Ich brenne noch für bestimmte Dinge“, sagt Schulz über sich selbst. „Das wird mir oft als Gier nach Anerkennung ausgelegt, für mich ist es ein noch nicht erloschenes Feuer.“

Trällern und maulen

Hinter dem Deutschen liegen an diesem Tag viele Gespräche – mit EU-Kommissaren, Frankreichs Europaminister, Abgeordneten und Presseleuten. Er ist dabei keiner, der – wie man das so sagt – aus seinem Herzen eine Mördergrube macht. Schulz ist anzumerken, wie sich Schulz fühlt. Als ein Interview mit der BBC von der europaskeptischen Insel besser klappt als gedacht, fängt er im Büro an, französische Chansons zu trällern. Umgekehrt mault er herum, wenn etwas nicht in seinem Sinn läuft. „Die spinnen“, ruft er, als er erfährt, dass die Konkurrenz seinen Rücktritt vom Präsidentenamt während des Wahlkampfs fordert. Die Launenhaftigkeit nimmt zu, je näher der Wahltag rückt. „Wir sind alle etwas dünnhäutig geworden“, gesteht Armin Machmer, Sprecher und Vertrauter von Schulz. „Aber Martin ist in Form.“

Zum Beispiel beim Auftritt an einer Berufsschule in Köln. Die Lehrer hat er beim Vorgespräch im Büro des Rektors schnell um den Finger gewickelt. Schulz plaudert und witzelt über seinen alten Handyknochen aus den Neunzigern und die eigenen Mitarbeiter, die gebückt in seinem Büro auftauchen: „Ich dachte erst, das sei Ehrfurcht, aber die suchen dauernd Steckdosen, um ihre Smartphones aufzuladen.“ Seine Berater sähen es gern, wenn er auch in anderen Sprachen mal einen Scherz einflechten würde – da komme er gelegentlich verbissen rüber. Auf Französisch jedenfalls gelingt ihm das besser als im Englischen.

Berlusconi macht ihn bekannt

Jedermanns Liebling ist er keinesfalls, eher einer, der polarisiert. Selbst Genossen in Großbritannien und Schweden geht die Europabegeisterung des Mannes zu weit, der durch seine gerade wiederbelebte Auseinandersetzung mit Italiens Expremier Silvio Berlusconi bekannt wurde, als der ihn für die Filmrolle einen KZ-Aufsehers empfahl. In solchen Rededuellen punktet Schulz mit seinem lockeren Mundwerk, manchmal schadet es ihm. Die einen begrüßen es, wenn er in der israelischen Knesset, offenbar spontan und ohne die Zahlen überprüft zu haben, fragt, warum ein Palästinenser nur 17 statt wie ein Israeli 70 Liter Trinkwasser am Tag zur Verfügung habe. Andere sehen darin einen diplomatischen Affront und sprechen ihm die Eignung zum Staatsmann ab. Schulz selbst verweist auf positive Reaktionen auch in Israel und sagt über sich: „Ich bin eben nicht dieser typische abgezockte Politprofi, der jedes und alles für gottgegeben hält.“

Die größte Ich-AG?

Die konservativen Christdemokraten haben ein Problem mit Schulz, den sie Anfang 2012 absprachegemäß mit zum Parlamentspräsidenten wählten. Vor allem sehen sie, dass er mehr aus dem eigentlich rein repräsentativen Amt gemacht hat als alle Vorgänger – und damit nicht nur die Wahrnehmung des Parlaments erhöhte, sondern vor allem auch seine eigene. „Martin Schulz ist die größte Ich-AG, die ich kenne“, sagt etwa die schwäbische CDU-Abgeordnete Inge Gräßle. Für Ärger unter den Verhandlungsführern sorgte etwa, als Schulz vor den abschließenden Verhandlungen zur Bankenunion in einem Interview sein eigenes Kompromissangebot machte. „Ich habe versprochen, dieses Parlament hörbarer und sichtbarer zu machen – das ist mir gelungen“, rechtfertigt Schulz seinen Politikstil. Ob das am Ende reicht? Schließlich reden auch die Staats- und Regierungschefs noch ein Wörtchen mit.

Um seinen guten Draht zur Bundeskanzlerin zu dokumentieren, öffnet Schulz während des kleinen Snacks in Bornheim den Kontakteordner seines alten Handys und zeigt, dass Merkels Nummer darin eingespeichert ist. Vielleicht hilft ja aber auch in diesem Fall der Happy Hippo aus dem Überraschungsei, den er jetzt aus seiner Sakkotasche holt. Schon vor zwanzig Jahren hat ihm seine Tochter den Glücksbringer geschenkt. Er ist seither immer dabei.

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