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Französischer Präsident, Emmanuel Macron, spricht sich gegen 'Europa-Zerstörer' aus.

© Philippe Lopez /AFP

Europawahlen in Frankreich: Beim Leben der Regenbogenforelle

Französische Europakandidaten bleiben stumm. Ist die EU für Frankreich noch wichtig? Präsident Macron sieht viele Chancen, die Bürger zweifeln. Ein Kommentar.

Man kann nicht gerade behaupten, dass in Frankreich die bei dieser Wahl entscheidenden europäischen Fragen in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Die Parteien haben ihre Programme noch nicht vorgestellt, was den Franzosen das Gefühl gibt, dass die Europawahlen nicht besonders wichtig sind, zumindest nicht so wichtig wie die im nächsten Jahr anstehenden Kommunalwahlen. Der aktuelle europäische Wahlkampf ist für die Parteien die Gelegenheit, ihr nach der Macron-Wahl angeschlagenes Image wieder aufzupolieren.

Der Parteivorsitzende von „Les Républicains“ zum Beispiel, Laurent Wauquiez, polarisierte auch sein eigenes Lager immer wieder mit seinen radikalen Thesen über Einwanderung und islamistische Bedrohung. Nun präsentiert die Partei einen jungen Kandidaten, der der Inbegriff des perfekten Schwiegersohns ist. Die sozialistische Partei PS kämpft mit dem Niedergang: Sie hat bei den Präsidentschaftswahlen 2017 das schlechteste Ergebnis überhaupt in ihrer Geschichte erzielt, gerade mal 6,35 Prozent.

Um noch ein Debakel zu vermeiden, wartete die PS mit einer Überraschung auf: Anlässlich der Europawahlen kündigte ihr Generalsekretär ein Bündnis mit einer neuen Bewegung an, der „Place Publique“, die allerdings Mühe hat, über Paris hinaus Wähler zu erreichen. Und was die Mehrheitspartei „La République en Marche“ (LREM) betrifft, so setzt sie auf Nathalie Loiseau, eine 54-jährige Technokratin ohne Charisma, aber als ehemalige Ministerin für europäische Angelegenheiten mit ausgewiesenen Kenntnissen des europäischen Räderwerks.

Womit sie das Gegenteil von Jordan Bardella ist. Der ist 23 Jahre jung und aus bescheidenen Verhältnissen, wie er zu gerne betont – und er ist das „junge und saubere“ Gesicht des „Rassemblement National“ von Marine Le Pen.Die „France Insoumise“ schließlich, die nicht wirklich kommunistisch, aber doch links der Linken eingeordnet wird, schickt Manon Aubry ins Rennen, eine 29-jährige Sciences-Po-Absolventin. Die Journalistentochter und ehemalige Sprecherin einer Anti-Korruptions-NGO hat allerdings Mühe, die „unbeugsamen“ Aktivisten zu mobilisieren, die sich nur mit ihrem charismatischen Parteichef Jean Luc Mélenchon identifizieren. Die Wahlbeteiligung verspricht also auf Rekordtiefe zu sinken.

Frankreich führt lebensnahe politische Diskussionen

Die in Deutschland geführte Debatte darüber, wie Europa mehr „Souveränität“ erlangen könnte, um seine Position international zu festigen, insbesondere im Hinblick auf die neuen großen Machtkämpfe zwischen den USA, China und Russland, gibt es in Frankreich natürlich auch. Besonders Chinas Projekt „Neue Seidenstraße“ beschäftigt die Franzosen. Und das liegt vor allem an der gescheiterten Privatisierung des Flughafens Toulouse. Dessen neue Besitzer haben seit ihrer Ankunft vor vier Jahren in erster Linie die Kassen geplündert. Und dann ist da noch die riesige Trockenmilchpulverfabrik in der Bretagne, die von ihren chinesischen Besitzern nur zwei Jahre nach ihrer Einweihung im April 2016 wieder aufgegeben wurde.

Solche Geschichten haben dazu geführt, dass die Franzosen ein offenes Ohr für protektionistische Diskurse haben, die gegenüber den anderen Weltmächten ein geeintes und kämpferisches Europa fordern. Doch sie sind auch misstrauisch. Die nationalen und regionalen Themen, die für die „normalen Bürgerinnen und Bürger“ die Diskussion bestimmen, sind aber lebensnaher, alltäglicher. Wie die vor fünf Monaten ins Leben gerufene Bewegung der „Gelbwesten“ nur zu deutlich gezeigt hat, haben die Franzosen genug von niedrigen Löhnen und Renten, vom Zerfall des öffentlichen Dienstes und dem Anstieg der Benzin- und Strompreise. Aber auch von den Privilegien, die Stadträten gewährt werden, und von der fest etablierten Vetternwirtschaft in unserem Land, die unter der Macron-Präsidentschaft nicht gerade weniger geworden ist.

Jüngstes Beispiel hierfür ist die Ernennung der Ehefrau des Fraktionsvorsitzenden der LREM zur neuen Kommunikationsdirektorin für die „Française des Jeux“, die staatliche Lottogesellschaft Frankreichs, kurz bevor diese privatisiert wird. Dann sind da noch die Rentenreform und die Privatisierung der letzten großen staatlichen Unternehmen: Es entsteht der Eindruck, dass viele der unangenehmen Veränderungen nicht zuletzt in Brüssel entschieden werden. Um den Verkauf der Pariser Flughäfen oder der Wasserkraftwerke zu rechtfertigen, beruft sich die Regierung auf Auflagen, die sie der Europäischen Kommission gegenüber zu erfüllen habe.

Kein Ausstieg, aber geforderte Veränderung

Die Franzosen wollen insgesamt keinen „Frexit“ – aber dass es so weitergeht wie bisher, wollen sie definitiv auch nicht. Und ebenso wenig wollen sie, dass die progressiven Parteien Wahlen gewinnen, nur indem sie das Schreckgespenst des aufsteigenden Nationalismus an die Wand malen. Das Wahlkampfvideo von LREM mit dem Titel „Für eine europäische Renaissance“ schlägt aber genau diesen Ton an: Voller erschreckender Bilder reduziert es die Debatte auf einen Gegensatz zwischen Macron und all denen, die Europa „zerstören“ wollen. Macron sagt darin sogar: „Ihr habt keine Wahl!“ Doch die Franzosen erwarten von seiner Bewegung weit mehr, als nur ein Bollwerk gegen den Rechtsextremismus zu sein.

Bis die Partei am Ende des Monats ihr Programm vorstellt, hat sie allerdings schon einmal einen Vorschlag in die Welt gesetzt, der es verdient, diskutiert zu werden: einen einheitlichen und angemessenen Mindestlohn für alle Länder der EU. „Es kann nicht sein, dass ein französischer Arbeiter Ungarn einen Blankoscheck ausstellt und so indirekt Sozialdumping in diesem Land finanziert“, erklärte die Nummer eins der Liste, Nathalie Loiseau. Zurzeit beträgt der bulgarische Monatsmindestlohn 286 Euro.

Europa relevanter als erwartet

Wie wichtig ist diese Wahl also für Frankreich? Sie ist wichtig, weil es heutzutage nicht mehr genügt, den Wählern zu versichern, dass Europa sie vor Krieg schützt, dass der Euro Stabilität garantiert, wenn im Gegenteil das allgemeine Gefühl herrscht, angreifbarer geworden zu sein. Nicht alle profitieren von einem Erasmus-Studium oder können sich einen Wochenendtrip nach Barcelona leisten. Die Kandidaten hätten also allen Grund dazu, deutlich zu machen, dass Europa auch den Bürgern der Provinz das Leben erleichtert.

Bei mir zu Hause zum Beispiel gibt es einen Verein, der dank europäischer Finanzierung Coworking- Spaces auf dem Land anbietet. Ein Freund von mir ist Ingenieur und bemüht sich mit europäischer Unterstützung um die Wiederansiedlung der Regenbogenforelle in der Aulne. Als ich diesen Winter für eine Reportage über Schafshirten in der Gegend von Sisteron unterwegs war, sah ich Kühlräume, die entlang von Bergstraßen aufgestellt waren und in denen Schäfer die von Wölfen oder streunenden Hunden gerissenen Schafe unterbringen können. An den Stahltüren konnte man lesen: Finanziert durch die EU. Europa ist auch im tiefsten Frankreich viel sichtbarer, als man denkt.

Jordan Pouille ist Inlandskorrespondent von „Le Monde“ und schreibt als Reporter für „Mediapart“ und „Monde Diplomatique“.

Übersetzung aus dem Französischen: Odile Kennel

Jordan Pouille

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