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Unter den Menschen, die am Flughafen in Kabul darauf warten, ausgeflogen zu werden, sind auch viele Kinder.

© -/U.S. Marine Corps/AP/dpa

Schüsse, Chaos, Terrordrohungen: Der Evakuierungsaktion in Kabul läuft die Zeit davon

Vor dem Flughafen in Afghanistans Hauptstadt Kabul bauen sich mittlerweile „junge, kräftige Männer“ auf, um Familien zu behindern. Die Lage bleibt dramatisch.

Von Robert Birnbaum

Zwei Frauen und ein Junge, um sie herum im Halbkreis neun KSK-Soldaten – ein privates Foto aus Kabul dokumentiert das Ende einer erfolgreichen Rettungsaktion und zugleich die immer schwierigere Lage. Denn es brauchte die Elitekämpfer, um eine Münchner Abiturientin, ihren Bruder und die Mutter in der Nacht zum Flughafen zu eskortieren.

Als „sehr, sehr angespannt“ beschreibt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Montag die Lage. In der Nacht lieferten sich Soldaten, auch deutsche, ein Feuergefecht mit Unbekannten an einem Flughafentor. Ein Afghane starb. Und mit jedem Tag erscheint es unwahrscheinlicher, dass auch nur die Menschen evakuiert werden können, die auf offiziellen Listen stehen.

Die drei Geretteten, die in München leben, waren am Tag des Falls von Kabul zu Besuch bei Verwandten. Wie der „Spiegel“ und das Fernsehmagazin Report Mainz berichten, hatten sie seit Tagen vergeblich versucht, durch die Menschenmenge vor den Flughafentoren bis an ein Gate zu kommen.

Das wird, berichtet Kramp-Karrenbauer „Bild TV“, mittlerweile zusätzlich erschwert durch eine Kette „junger, kräftiger Männer“, die sich vorne aufbauen und Familien behindern. Aus Kabul ist auch von Erpressungen zu hören. Verzweifelte werden abkassiert, wenn sie bis an die rettenden Tore gelangen wollen.

Der deutsche Kommandeur Jens Arlt entschied sich jedenfalls in der Nacht, den KSK-Trupp am südöstlichen „Abbey Gate“ vor die Mauern zu schicken, um die kleine Gruppe im Schutz der Dunkelheit zu finden – das Handy der jungen Frau war leer – und in den Flughafen zu bringen. Nach dem Medienbericht kamen sie auch deshalb jetzt erst durch, weil das Auswärtige Amt der Mutter die Ausreise vorher offenbar tagelang verweigert hatte. Sie habe anders als ihre Kinder keinen deutschen Pass, sondern lebe mit einem Aufenthaltstitel in München.

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Solche Aktionen außerhalb der Airport-Mauern wird es jetzt öfter geben. Die Schüsse spät in der Nacht am Nordtor, bei denen die beteiligten Bundeswehr- und US-Soldaten unverletzt blieben, die Blockade durch die jungen Männer, dazu zunehmend Drohungen „auch von anderen terroristischen Gruppen“ (Kramp-Karrenbauer) machen es Ortskräften und anderen immer schwerer, sich selbst durch das Chaos durchzuschlagen.

Diese „anderen“ Terroristen meint vor allem den afghanischen Ableger des Terrornetzwerks „Islamischer Staat“ (IS), der mit den Taliban verfeindet ist. Die Sorge ist groß, dass ein Selbstmordattentäter in der Menge vor dem Tor ein Massaker anrichten könnte.

Die Konsequenz aus alledem: Die Soldaten müssten "sehr viel stärker dazu übergehen, die Menschen abzuholen“, sagt Kramp-Karrenbauer. Über Einzelheiten redet tunlichst niemand laut. Aber die KSK-Kämpfer waren offenkundig nicht in der Stadt selbst unterwegs, sondern im Raum rund um den Flughafen.

Auch die zwei KSK-Kleinhubschrauber, die seit Samstag in Kabul sind, kamen noch nicht zum Einsatz. Darüber entscheide ihr Mann vor Ort in Abstimmung mit den USA autonom, betonte die Ministerin: „Wenn ich wirklich zu einem Menschen unheimliches Vertrauen habe, dann ist es General Arlt.“ Der wisse umgekehrt: „Was immer vor Ort passiert: Ich halte den Kopf hin.“

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Tatsächlich stehen Aufwand und Effekt für eine Hubschrauber-Aktion der Deutschen wohl auch aus Sicht des maßgeblichen US-Kommandeurs derzeit in keinem Verhältnis. Die Airbus-Helikopter können nur etwa ein halbes Dutzend Menschen aufnehmen. Die Amerikaner müssten zusätzlich einen eigenen Hubschrauber als Luftdeckung abstellen. Bisher gelingt es trotz aller Schwierigkeiten immer noch, jeden Tag viele Menschen auf dem Landweg in den Airport zu bringen.

Die US-Armee flog zuletzt binnen 24 Stunden rund 10 000 Personen aus. Auch der Pendelverkehr der Bundeswehr ins usbekische Taschkent ging mit übervollen A400M-Transportmaschinen weiter. Bis Montag hatten sie insgesamt gut 3000 Menschen evakuiert, darunter etwa 1800 Afghanen.

Karawane der Hoffnung: Tag und Nacht fliegen die Militärtransporter vom Flughafen Kabul
Karawane der Hoffnung: Tag und Nacht fliegen die Militärtransporter vom Flughafen Kabul

© U.S. Air Force/Senior Airman Taylor Crul/via REUTERS

Doch den Rettern läuft die Zeit davon. Gut 10.000 Menschen stehen allein auf der deutschen Liste der Schutzbefohlenen, und täglich kommen neue dazu. US-Präsident Joe Biden hat zwar angedeutet, dass er sich vorstellen kann, den Einsatz über das offizielle amerikanische Abzugsdatum 31. August hinaus zu verlängern. Deutschland und andere Verbündete würden das begrüßen. Der G-7-Videogipfel an diesem Dienstag soll über eine Verlängerung beraten.

Aber ein Taliban-Sprecher lehnte bereits kategorisch ab. Dass ausländisches Militär länger im Land bliebe, würde den Vereinbarungen von Doha mit den USA widersprechen, betonte er. Jeder Versuch, daran zu rütteln, werde zu „Konsequenzen“ führen.

Ob die neuen Herren am Hindukusch in dieser symbolträchtigen Frage doch noch mit sich reden lassen, ist mehr als ungewiss. Bisher sind sie kooperativ bei der Evakuierungsaktion: „Das was man braucht, wird gewährt“, betonte Kramp-Karrenbauer.

Die Stellung am Flughafen gegen den Willen der Taliban zu halten, beurteilt sie skeptisch: Es nutze ja auch nichts, länger zu bleiben, wenn das mehr Menschen gefährden als retten würde. Außenminister Heiko Maas (SPD) will stattdessen ausloten lassen, ob nach dem Abzug der Militärs zivile Flugzeuge die Evakuierung fortsetzen könnten.

Auch die Verteidigungsministerin setzt eher darauf, deutsche Ortskräfte später noch außer Landes zu bekommen, in Wochen oder Monaten. „Wenn ich mich dazu mit Taliban an den Tisch setzen muss, auch als Regierung, dann tue ich das.“ Auch wenn sich ihr bei dem Gedanken der Magen umdrehe, wer da an der anderen Seite des Tischs sitzt. Aber auf ihr Befinden, sagt Kramp-Karrenbauer, komme es nun wirklich nicht an.

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