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Politik: Evangelischer Kirchentag: Zwischen Bibel und Nintendo

Nichts scheint auf den ersten Blick weniger passend als das Motto des Evangelischen Kirchentags: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum" - davon kann für einen gewöhnlichen Besucher des Protestantentreffens keine Rede sein. Vielmehr schieben die modernen Wallfahrer sich in schier endlosen Schlangen über das Frankfurter Messegelände oder stehen sich wie etwa bei dem übervollen Eröffnungsgottesdienst am Römer gegenseitig auf den Füßen.

Nichts scheint auf den ersten Blick weniger passend als das Motto des Evangelischen Kirchentags: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum" - davon kann für einen gewöhnlichen Besucher des Protestantentreffens keine Rede sein. Vielmehr schieben die modernen Wallfahrer sich in schier endlosen Schlangen über das Frankfurter Messegelände oder stehen sich wie etwa bei dem übervollen Eröffnungsgottesdienst am Römer gegenseitig auf den Füßen. Von wegen weiter Raum!

Doch das Motto irritiert auch auf den zweiten Blick. Lebt das Christentreffen nicht seit seiner Entstehung nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Anspruch, Seismograf der Gesellschaft zu sein, Impulse zu geben und einer suchenden Zeit Orientierung zu vermitteln? Der Leitspruch lässt dagegen an unbekanntes Terrain denken, auf dem sich die Kirche wohl selbst erst zurecht finden muss. Tatsächlich ist das bundesweite Christentreffen in den vergangenen Jahren immer unübersichtlicher und zugleich unpolitischer geworden.

Prägten in den achtziger Jahren noch Themen wie die Nachrüstung oder der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika die Kirchentage, so zeichnet sich heuer keine prägende Überschrift ab. Das Stichwort Gentechnik beherrscht zwar die Schlagzeilen, spielt aber in Wirklichkeit nur bei einem Bruchteil der mehr als 2000 Veranstaltungen eine Rolle und scheint die Besucher bisher nicht über die Maßen zu bewegen. Wenn in der Öffentlichkeit ein anderer Eindruck entsteht, so verdankt sich dies geschickter Inszenierung. Die PR-Profis des Protestantentreffens füttern die Journalisten mit einer eigens ersonnenen Zitatensammlung zu dem Komplex.

Sie reagieren damit auch auf die Erwartung, der Kirchentag habe der moralischen Vor- und Nachsorge der Gesellschaft zu dienen. Dieses Vorgehen ist zwar aus Sicht der Organisatoren verständlich, kann aber kaum überdecken, dass man der Diskussion hinterherhechelt. Ob Nahost-Konflikt, Agrarkrise oder Gentechnik - in Frankfurt wird meist nur nachgebetet, was andernorts bereits gesagt worden ist. Dass sich das ändert, wenn Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Clement sich heute seinen Kritikern stellt, erscheint fraglich.

Politisch geben sich die einst so widerspenstigen Protestanten ohnehin handzahm. Selbst die alten antikapitalistischen Reflexe lassen sich offensichtlich nicht mehr aktivieren. Bei Demonstrationen gegen die Macht des Kapitals, die am Rande stattfanden, marschierten nur einige hundert Christen mit. Wegen dieser mangelnden Streitlust müssen die Debatten aber nicht als wertlos abgekanzelt werden. Vielmehr leistet der Kirchentag so einen Beitrag zur Demokratisierung einer Diskussion über Grundlagen und Zielvorstellungen der Gesellschaft.

Zweifelhaft ist nur der Versuch, die vielen Seiten der protestantischen Leistungsschau auf einen Nenner bringen und das Christentreffen so mit höheren Weihen versehen zu wollen. Weiter führen würde es vielmehr, den schleichenden Funktionswandel dieser Traditionsveranstaltung schlicht einzugestehen. In einer Zeit, die weniger auf Ideologie als vielmehr auf Konsens und Pragmatismus setzt, kann man von einer fünftägigen Kirchenmesse keine wegweisenden politischen Botschaften erwarten. Statt als Kompass der Gesellschaft erscheint der Kirchentag vielmehr als religiöser Dienstleister. Er versucht, die Bedürfnisse seiner meist aus dem evangelischen Milieu stammenden Besucher - nicht die der Gesellschaft - zu befriedigen.

Das heißt, den Einen - besonders den Älteren - bietet er eine politisch-spirituelle Bildungsveranstaltung mit hochkarätigen Referenten. Andere - besonders die Jüngeren - erwarten ein großes Event. Auch sie kommen in Frankfurt nicht zu kurz und dürfen zwischen Reggae-Party, Nintendo, Kletterwand und Zuckerwatte ihre klerikale Love Parade feiern. Andere wiederum suchen nach neuen religiösen Erfahrungen. Hier bewährt sich der Kirchentag auch diesmal wieder als Experimentierfeld des Glaubens, auf dem neue Formen getestet werden. Das Angebot in Frankfurt reicht vom Gebetsgarten bis zur Halle der Spiritualität und findet große Resonanz.

Welche Impulse der Einzelne für seine persönliche Sinnsuche dabei erfährt, lässt sich allerdings nicht messen. Manchen dient das Treffen auch als emotionale Tankstelle. In der fröhlich-ansteckenden Gemeinschaft der Pilgermassen holen sie sich Kraft für ihren Alltag als Diakonisse, Jugend- oder Sozialarbeiter.

Zollt das Christentreffen, wenn es so gewissermaßen die Konsumwünsche des Publikums erfüllt, dem Zeitgeist einen zu hohen Tribut? Ist es zu beliebig und bunt? Nein, es stellt nur das Kontrastprogramm zum oft erstarrt wirkenden Kirchenalltag dar. Das Protestantentreffen mobilisiert Massen und Medien. Es ist eine im Großen und Ganzen gelungene Reklameveranstaltung der Kirche - zwischen ernst, flippig und fromm.

Michael Trauthig

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