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© Thilo Rückeis

Ex-Verfassungsrichter zum Lissabon-Urteil: "Das bedeutet mehr Arbeit, aber sie lohnt sich"

Ex-Verfassungsrichter Dieter Grimm über die Folgen des Karlsruher Lissabon-Urteils für den Bundestag und die Forderungen der CSU.

Hat der Bundestag in den vergangenen Jahren in der Europapolitik geschlafen?



Das wäre übertrieben. Aber mit Ausnahme weniger Spezialisten fand Europa im Bundestag bisher nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient. Der Bundestag hat Einflusschancen und könnte sie besser nutzen.

Kommt auf den Bundestag nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag, sprich zur EU-Reform, künftig mehr Arbeit zu? Die Verfassungsrichter sprechen von der „Integrationsverantwortung“, die auch der Bundestag in der Europapolitik hat.

Der Bundestag ist nach dem Lissabon-Urteil vor allem dort gefordert, wo die Europäische Union ihre Zuständigkeiten ohne förmliche Änderung der Verträge und also ohne Ratifikation im Parlament ausweiten kann. Wandern Kompetenzen nach Brüssel ab, gehen sie den nationalen Parlamenten verloren. Deswegen darf das nicht ohne Debatte und Beschluss im Bundestag geschehen. Das bedeutet mehr Arbeit, aber sie lohnt sich.

Die CSU möchte mehr. Wenn es nach ihrem Willen geht, dann soll sich der Bundestag künftig bei allen EU-Gesetzen, die ihm wichtig sind, rechtzeitig einschalten und der Bundesregierung bei ihren Verhandlungen in Brüssel eine Anleitung mit auf den Weg geben. Ist das in der politischen Praxis überhaupt machbar?

Schon jetzt ist die Bundesregierung verfassungsrechtlich verpflichtet, den Bundestag in Sachen Europapolitik zu unterrichten. Geht es um Rechtsetzung, muss sie ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben und diese Stellungnahme bei den Verhandlungen in Brüssel berücksichtigen. Alles weitere wäre schädlich. Die europäische Gesetzgebung folgt nicht dem Muster der nationalen Gesetzgebung. In Europa verhandeln Staaten miteinander und versuchen ihren Interessen so weit wie möglich Geltung zu verschaffen. Wer hier keinen Verhandlungsspielraum hat, kann seine Interessen nicht wirksam vertreten. Alles, was einem imperativen Mandat nahe käme, würde Deutschlands Gewicht auf europäischer Ebene schwächen.

Kann der Bundestag die Aufgabe, europäische Rechtsetzungsakte rechtzeitig zu kontrollieren, überhaupt leisten?

Die europäische Rechtsetzung ist oft von größerer Tragweite als die nationale. Wenn sich der Bundestag hier stärker in die Pflicht nehmen lässt, werden auch die Europa-Spezialisten größeres Gewicht und vielleicht sogar mehr Zulauf erhalten.

Das Europaparlament kommt im Karlsruher Urteil nicht gut weg. Zu Recht?

Das Europaparlament ist im Lauf der Zeit immer wichtiger und auch selbstbewusster geworden. Es sorgt dafür, dass der EU neben der Legitimation durch die Staaten auch Legitimation von den Unionsbürgern zugeführt wird. Zudem bildet es ein Gegengewicht gegen den Lobbyisten-Einfluss in Brüssel. Aber man darf sich keine Illusion machen. Das Parlament ist eher eine Veto- als eine Gestaltungsmacht. Und die Kommission ist in ihrer Politik vom Ausgang der Parlamentswahlen weithin unabhängig.

Lässt sich überspitzt sagen, dass aus dem Karlsruher Urteil folgender Geist spricht: Die europäische Integration ist nicht so sehr eine Chance, sondern eher eine Bedrohung?

Dass die europäische Integration eine Chance ist und vom Grundgesetz ausdrücklich gewollt wird, steht nach dem Urteil außer Zweifel. Das Bundesverfassungsgericht richtet aber Hürden für eine schleichende Aushöhlung der Staatlichkeit und für eine Einebnung der Vielfalt auf, die Europas großer Reichtum ist. Daran muss die EU manchmal erinnert werden. Es gibt Sachbereiche, die bei den Staaten besser aufgehoben sind als bei ihr.

Der frühere Außenminister Joschka Fischer argumentiert, dass das Verfassungsgericht den Popanz eines europäischen Bundesstaates aufgebaut habe, den ohnehin niemand wolle.

Da hätte er sich mal an seine Berliner Humboldt-Rede erinnern sollen. Damals kam er selber dem europäischen Bundesstaat als Endziel der Integration ziemlich nah. Und Ministerpräsident Rüttgers hat es kürzlich in seiner Reaktion auf das Lissabon-Urteil ausdrücklich bekräftigt.

Was halten Sie von der CSU-Forderung, die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages generell unter den völkerrechtlichen Vorbehalt des Karlsruher Urteils zu stellen?

Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag ohne Abstriche für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Ich wüsste nicht, wo da noch Platz für eine Ratifikation unter Vorbehalt ist.

Der Lissabon-Vertrag könnte am Ende noch scheitern, wenn demnächst in Großbritannien Tory-Chef David Cameron im Falle eines Wahlsieges der Konservativen die Ratifizierung des Vertrages rückgängig machen würde. Muss sich Deutschland mit der Ratifizierung des Vertrages beeilen, um dies zu verhindern?


Rechtlich spielt es keine Rolle, wann Deutschland ratifiziert. Politisch, als Signal für die letzten zögerlichen Länder, wäre es höchst wünschenswert, wenn es schnell geschähe.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

Dieter Grimm (72) war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Dabei prägte er unter anderem die Rechtsprechung zur Meinungs- und Pressefreiheit.

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