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Hoffen auf Frieden

© dpa

Experte im Interview: "Syrien und die Fatah müssen sich einmischen"

Eine militärische Lösung des Konflikts im Gazastreifen ist trotz der israelischen Offensive nicht in Sicht. Die einzige Lösung: Die Fatah unter Mahmud Abbas und Syrien müssen sich einmischen, glaubt Gershon Baskin, einer der beiden Direktoren des israelisch-palästinensischen Thinktanks IPCRI.

Israel rechtfertigt den Krieg damit, dass es sich gegen die Raketen verteidigen muss, mit denen die Hamas israelische Zivilisten angreifen. Ist es wahr, dass es keine Alternative zu diesem Krieg gab?

Das ist eine große Diskussion. Es wird gesagt, dieser Krieg sei ein Krieg ohne Alternativen. Es mag sein, dass die israelische Antwort auf den Bruch der Waffenruhe die für Israel einzig mögliche war. Es hätte ein neuer Waffenstillstand zu den Bedingungen der Hamas ausgehandelt werden können, was Israel zurückgewiesen hat. Strategisch gesehen war es tatsächlich unmöglich, den Bedingungen der Hamas zuzustimmen, weil das nur die Hamas gestärkt hätte. Und es gab niemanden – Ägypten, Jordanien, die Saudis und die Palästinensische Autonomiebehörde eingeschlossen – der ein Interesse an einer gestärkten Hamas gehabt hätte. Trotzdem: Alles, was uns so weit gebracht hat, war eine Folge von Entscheidungen. Und die meisten Entscheidungen waren falsch.

Haben die bevorstehenden Wahlen Einfluss auf diese Entscheidungen gehabt?

Ich denke, das spielt eine Rolle, aber es ist schwer einzuschätzen, wie sehr. Sicherlich, es war eine Möglichkeit für Verteidigungsminister Ehud Barak, seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Er und seine Arbeitspartei sanken in den Umfragen. Es war auch eine Möglichkeit für Außenministerin Zipi Livni zu zeigen, dass sie schwierige Entscheidungen treffen und führen kann. Ich glaube jedoch nicht, dass das das vorrangige Motiv für die Angriffe war. Ich fürchte aber, dass die Leute falsche Schlüsse ziehen könnten: Es ist ziemlich klar, dass Barak offenbar ein militärisches Genie ist. Aber das bedeutet nicht, dass er ein Staatsmann ist. Er hat bereits einmal als Staatsmann versagt.
(Ehud Barak war von 1999-2001 Ministerpräsident Israels. Mit Ausbrechen der zweiten Intifada verlor er den Rückhalt in der Bevölkerung. Bei Neuwahlen im Februar 2001 setzte sich Ariel Scharon durch. Anm. d Red.)

Riskiert Israel mit der Offensive nicht, den Rückhalt in der eigenen Bevölkerung zu verlieren, wenn etwa Soldaten sterben?

Bis jetzt ist die Zahl der Opfer überschaubar. Aber natürlich ist das Risiko groß. Aber auch die Zahl der palästinensischen zivilen Opfer stellt ein Risiko dar.

Auf der anderen Seite steht das Land geschlossen hinter der Regierung. Ich war vor drei Tagen in Sderot. Die Lage dort ist nicht hinnehmbar. Die Leute können unter diesen Bedingungen nicht leben. Keine Regierung der Welt könnte es akzeptieren, dass die eigenen Städte von Raketen aus dem Nachbarland beschossen werden. Das strategische Ziel, das der Öffentlichkeit präsentiert wurde, versprach eine neue Sicherheitslage im Süden des Landes ohne Raketenbeschuss. Mit den Luftangriffen allein hätte dieses Ziel nicht verwirklicht werden können.

Wie würden Sie das israelische Vorgehen beschreiben?

Die israelische Armee ist dabei, gezielt Hamas-Kämpfer zu verhaften, wahrscheinlich mit zwei Hintergedanken: Der eine ist, sie zu befragen, um geheimdienstliche Informationen über den Aufenthaltsort des militärischen Arms der Hamas und seiner Führer zu erhalten. Der zweite ist, sie festzunehmen, um sie später gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalid auszutauschen.

Israel hat einen Hilfskorridor für den Gazastreifen angekündigt. Wie ist die humanitäre Lage dort?

Auf der Flucht
Palästinensische Familien fliehen vor den Angriffen. -

© AFP

Die humanitäre Lage ist nach allem, was ich weiß - aus palästinensischen Quellen, von Informationen der UN und den Berichten der israelischen Regierung - schlecht, aber nicht entsetzlich. Klar es ist Krieg - also ist die Lage erschreckend. Aber die Israelis lassen wenigstens Ärzte in den Gazastreifen und erlauben täglich die Versorgung mit Medikamenten und den grundlegendsten Nahrungsmitteln. Ich habe gestern mit Freunden in Gaza gesprochen und sie alle haben gesagt, sie haben Essen. Die Israelis sind sich dessen bewusst, dass sie sicherstellen müssen, dass Grundnahrungsmittel in den Gazastreifen gelangen, um die Bodenoffensive so lange fortführen zu können wie sie müssen.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Palästinenser, die die Hamas bislang noch nicht unterstützt haben, nun überlaufen könnten?

Ich habe gestern mit Leuten geredet und sie nach der Stimmung in Bezug auf die Hamas gefragt. Sie sind alle sehr wütend, dass sich die Hamas-Führung im Untergrund versteckt hält und in Bunkern geschützt ist, während alle anderen exponiert sind. Das ruft Zorn hervor. Die Hamas ist verantwortlich für den Bruch der Waffenruhe und versteckt sich nun, während ihre Leute angegriffen werden.

Aber ist die Hamas verantwortlich für die Eskalation im Gazastreifen? Spielt es nicht auch eine Rolle, dass Israel die Belagerung des Gazastreifens nie beendet hat?

Das ist richtig: Die Belagerung wurde nie aufgehoben. Das Problem ist, dass es vor sechs Monaten keine offizielle schriftliche Einigung gab. Es gab Vereinbarungen und es gab unterschiedliche Auffassungen der Vereinbarungen. Die Hamas glaubte, dass Israel sich bereit erklärt habe, die Grenzen wieder zu öffnen und den Waffenstillstand auf das Westjordanland auszudehnen. Die israelische Auffassung ist komplett anders. Israel sagte, es werde nie die Grenzübergänge öffnen bevor Gilad Schalit nicht freigelassen werde. Und Israel hat auch nie zugestimmt, die Waffenruhe auf das Westjordanland auszudehnen. Das ist etwas, das Israel mit der palästinensischen Autonomiebehörde aushandelt und nicht mit Hamas.

Ich habe mich eine Woche vor dem Bruch der Waffenruhe mit jemandem von der Hamas getroffen. Ich glaube, die Hamas hat sich gnadenlos selbst überschätzt. Sie haben wirklich gedacht, dass sie viel stärker wären als sie tatsächlich sind. Sie haben die Antwort der Israelis komplett unterschätzt. Und sie haben gedacht, dass wenn es zu einer Bodenoffensive kommen würde, könnten sie die israelische Armee vernichten. Das ist Propaganda, aber sie haben es geglaubt. Sie haben sogar gedacht, sie könnten Israel Bedingungen stellen.

Hat Israel die Hamas zuvor nicht auch unterschätzt?

Nein, ich glaube nicht. Ich denke sogar, dass Israel die Hamas sogar überschätzt hat. Bevor der Krieg begonnen hat, sprach die Hamas von einem Sperrfeuer auf Israel von bis zu 200 Raketen pro Tag. Jetzt sind es zwischen 30 und 40.

Von der Fatah ist kaum etwas zu hören in diesen Tagen. Welche Rolle spielt sie?

Die Fatah spielt gar keine Rolle. Die spannende Frage ist aber, was Abbas tun wird. Der Schlüssel zu einer Lösung wäre eine erneute Waffenruhe, die vorsieht, dass die Grenzen in Rafah wieder geöffnet werden und Abbas und seine Truppen mit Unterstützung von EU-Truppen Rafah kontrollieren. Das würde die Belagerung des Gazastreifens durch Israel beenden und den Schmuggel eindämmen. Allerdings müsste ein endgültiger Deal auch die Freilassung Schalits umfassen.

Müsste die Hamas dafür nicht kapitulieren?

Ich glaube nicht, dass Hamas kapitulieren wird. Aber ich glaube, was passieren könnte, ist, dass Syrien einigen Druck auf Hamas ausüben könnte, einen wie auch immer gearteten Deal anzunehmen. Ich glaube, wenn Syrien von den Amerikanern, den Europäern, den Saudis und der Arabischen Liga gebeten werden würden, Druck auf die Hamas auszuüben, wäre Syrien dazu bereit.

Eine andere Sache ist die: Ich könnte mir vorstellen, dass es eines von Baraks strategischen Zielen ist, die Hamas-Führer zu erwischen und als Geiseln zu nehmen. Das könnte eine Art von Kapitulation sein. Das Problem aber ist, was danach kommt. Ich glaube nicht, dass Israel eine Antwort darauf hat, was am Tag darauf passiert.

Gershon Baskin ist Gründer und einer der beiden Direktoren des "Israel-Palestine Center for Research and Information" (IPCRI), eines israelisch palästinensischen Think Tanks. Gegründet wurde das IPCRI 1988 während der ersten Intifada. Heute arbeiten Israelis und Palästinenser dort gemeinsam an Lösungsvorschlägen für die Zukunft Israels. Zwischen 1993 und 1996 war Baskin als Berater für die Angelegenheiten der Palästinenser unter Ministerprsident Jitzchak Rabin tätig.

Interview von Nicole Scharfschwerdt

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