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William Nee ist China-Experte von Amnesty International in Hongkong.

© privat

Experte von Amnesty International: "China will Menschenrechtler durch Verhaftungen abschrecken"

Seit dem 9. Juli sind in China mehr als 200 Menschenrechtsanwälte und Aktivisten verhört oder interniert worden, mehr als 20 sind in Arrest oder werden vermisst. Peking wolle eindeutig abschrecken, sagt der China-Experte William Nee von Amnesty International in Hongkong.

Herr Nee, seit dem 9. Juli werden Anwälte und Aktivisten in ganz China verhört und interniert. Verbessert sich die Situation langsam wieder?
Nein, sie verschlimmert sich noch. Unser Team von Amnesty International versucht kontinuierlich, die Lage zu erfassen und Kontakt zu unseren Quellen zu halten. Bisher wurden mehr als 200 Menschenrechtsanwälte und Aktivisten verhört oder interniert, mehr als 20 sind in Arrest oder werde vermisst. Die Zahlen steigen weiter.

Gibt es Vorbilder für dieses Vorgehen?
Es stellt einen bisher nicht dagewesenen Angriff gegen die Anwälte dar. Verhaftungen gab es auch während der chinesischen Jasmin-Revolution 2011. Parallel zum arabischen Frühling gab es damals die Hoffnung, dass China demokratischer würde. Aber die aktuellen Maßnahmen sind ungleich umfangreicher und schwerwiegender. Viele Anwälte sehen sich schweren Anklagen gegenüber.

Was ist das Ziel der Regierung von Xi Jinping?
Ich sehe drei zentrale Botschaften: Erstens sollen Anwälte sich nicht den heiklen Fällen annehmen. Diese kann alles betreffen – die freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Folter oder die Todesstrafe. Zweitens sollen die Anwälte nicht soziale Medien oder allgemein das Internet nutzen, um Unterstützung zu organisieren. Drittens sollen sie nicht mit Aktivisten zusammenarbeiten oder sich mit der Zivilgesellschaft verbünden, womit Proteste verhindert sollen.

Sehen Sie einen Zusammenhang mit der Freilassung von Zhang Miao, der "Zeit"-Assistentin, die neun Monate im Gefängnis saß?
Am Morgen nach der Freilassung wurde ihr Anwalt Zhou Shifeng festgenommen. Er arbeite für die Kanzlei Fengrui, dem Hauptziel der Verhaftungen. Aber wir wissen nicht, ob es direkt zusammenhängt. Mit ihr wurden im Herbst mehr als 100 Personen interniert. Viele hatten lange keinen Verteidiger, viele wurden gefoltert. Man könnte das damalige Vorgehen als Schablone für die aktuelle Aktion sehen.

Am Samstag hat die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua ein Geständnis von Zhou Shifeng veröffentlicht, in dem er sich kriminellen Verhaltens schuldig bekannt haben soll. Wie bewerten Sie dieses und ähnliche Geständnisse?

Es scheint, dass sie angefertigt wurden, um die bereits bestehenden Vorwürfe gegen die Anwälte zu bestätigen. Das Geständnis zeigt, dass die Regierung Zhou und seine Kollegin Wang Yu diffamieren und als Hauptschuldige in einer Verschwörung herausstellen will. Alle festgenommenen Anwälte müssen damit rechnen, gefoltert oder misshandelt zu werden, da die Regierung anscheinend die Geständnisse nutzen will, um ihre Version der Geschichte zu beweisen. Einige der wichtigsten Schutzmaßnahmen gegen Folter wird ihnen bisher verwehrt, nämlich Kontakt zu Anwälten und Familienmitgliedern.

Welche Rolle hat das neue Gesetz zur nationalen Sicherheit, das von Amnesty als "drakonisch" kritisiert wurde?
Das Gesetz nutzt vage Formulierungen, um der Regierung ein Werkzeug zu geben, gegen jegliches unliebsame Verhalten vorzugehen. Es gehört zu einer Gesetzesserie, die die Macht der kommunistischen Partei stärken sollen. Derzeit wird auch das Strafrecht überarbeitet, um Anwälte bei Störungen oder "anderem" Verhalten vor Gericht bestrafen zu können. Das "andere" ist natürlich sehr subjektiv. So soll das Unrecht weiterhin aufrechterhalten werden. Für die Menschenrechte in China ist es eine verheerende Zeit.

Soll die Menschenrechtsszene allgemein abgeschreckt werden?
Ja. Wenn man sich ansieht, wie sie die Personen festnehmen: Manche wurden mitten in der Nacht von Sicherheitskräften verhaftet, sie sind in ihre Hotels eingebrochen. Fast wie in Hollywood-Filmen. Es geht hier nicht um Massenmörder, die Anwälte sind alles gesetzestreue Menschen. Das massive Ausmaß des Vorgehens und die Art und Weise sollen Angst einjagen. Die Anwälte sind untereinander sehr solidarisch, sie haben Foren und sprechen regelmäßig über ihre Fälle. Wenn einer in Schwierigkeiten kommt und beispielsweise im Gericht festgehalten wird, tun sie alles, um sich gegenseitig zu helfen. Die kommunistische Partei will diese Solidarität brechen.

Wer ist betroffen?
Die Regierung geht gegen die hartnäckigen Verteidiger vor. Wenn sich ein Richter nicht an die Verfahrensordnung hält, bestehen sie darauf, dass das Gericht das Gesetz einhält. Sie nutzen die sozialen Medien, um über ihre Fälle zu sprechen und breite Unterstützung zu gewinnen. Darüber ist die Regierung besorgt: Die Anwälte können einen Einfluss auf die öffentliche Meinung bekommen. Damit sieht sie ihre Macht in Frage gestellt. Wer kann die Anwälte verteidigen? Das ist das Problem. Der berühmte Anwalt Sui Muqing wurde inhaftiert, da er Streitigkeiten provoziert hätte. Nun wurde eine viel schwerere Anklage gegen ihn erhoben, dass er nämlich zur Untergrabung der Staatsgewalt aufgerufen habe. Aber auch sein Anwalt wurde verhaftet. Allgemein gibt es Probleme, Verteidiger zu finden.

Während seiner Reise nach Peking hat der Vizekanzler Sigmar Gabriel in der vergangen Woche nicht nur über die Handelsbeziehungen gesprochen, sondern auch mehr Freiheit für die chinesische Gesellschaft gefordert. Wie sollten ausländische Regierungen reagieren?
Wir hoffen auf weitere deutliche Stellungnahmen. Bisher schenkt die Welt der Aktion nicht die ausreichende Beachtung. Eine Verhaftungswelle in einem Land, das für die internationalen Beziehungen und den Welthandel so entscheidend ist, wird starke Auswirkungen haben. Die Anwälte haben sich um die wichtigsten Menschenrechtsfälle gekümmert. Von den Staatsmedien wurden sie als kriminelle, illegale Anwälte bezeichnet. Sie sind die letzte Verteidigungslinie für viele gefährdete Gruppen in China. Wenn sie mundtot gemacht werden, wird sich die Menschenrechtssituation stark verschlechtern.

Hinnerk Feldwisch-Drentrup

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