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Ein Auszubildender, der 2012 aus dem Iran nach Deutschland geflohen war, macht er eine Ausbildung als Industriemechaniker.

© Andreas Arnold/dpa

Fachkräftemangel, Asyl und Migration: Koalition beschließt Spurwechsel, der nicht so heißen darf

Die Einigung ist eine Sensation: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, wird nicht automatisch abgeschoben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Kleine Dinge werden gerne groß inszeniert, werden mit Pauken und Trompeten verkündet, als seien es Revolutionen, um der Öffentlichkeit ein Gefühl von Tatkraft und Entschlussfreude zu vermitteln. Das stößt gemeinhin auf Skepsis. Große Dinge dagegen werden gerne klein präsentiert.

Keiner soll merken, dass sie beschlossen wurden. Sie werden in Wortungetüme gekleidet, in der oft berechtigten Hoffnung, das Publikum wende sich gelangweilt oder gar angeödet ab. Keiner soll kläffen, bloß keine schlafenden Hunde wecken. Das funktioniert erstaunlich gut.

In der Nacht von Montag auf Dienstag einigten sich die drei Koalitionsparteien auf Eckpunkte eines „Fachkräftezuwanderungsgesetzes“. Es sind nur Eckpunkte, fest steht gar nichts. Das Wort „Spurwechsel“ wurde tunlichst vermieden, es bleibe beim Grundsatz der Trennung von Asyl und Erwerbsmigration, hieß es. Vor allem Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) war das wichtig. In gut einer Woche wird in Bayern gewählt, ihn quält die Angst vor der AfD. Also: tief hängen, flüstern, technisch reden. Fachkräftezuwanderungsgesetz.

Die Opposition spielte mit. Keiner lobte die Einigung. Zu spät, zu unkonkret, fehlende Zielgenauigkeit, fehlendes Gesamtkonzept, tönte es. Das war’s. Zeitungen erschienen am nächsten Tag nicht, da feierten die Deutschen ihre Einheit. Deshalb gab’s auch keine Talkshows. Außerdem befasste sich das Land lieber mit dem Diesel. Wer ist schuld daran, dass die Luft verpestet wird, wer soll zahlen, damit sie sauberer wird? Auch dazu lag ein mühsam ausgehandelter Kompromiss der Bundesregierung vor. Zünftiger Zoff war garantiert.

Die Union hat sich von Dogmen und Illusionen verabschiedet

Eine Sensation aber ist die Einigung zur Einwanderung und Integration. Da ist die Union über ihren eigenen Schatten gesprungen, lässt Pragmatismus über Ideologie siegen: Deutschland ist ein Einwanderungsland, es ist angewiesen auf Zuwanderung. Wer die Sprache spricht, seinen Lebensunterhalt bestreiten kann oder eine Arbeitsplatzzusage hat, kann kommen und bleiben. Endlich hat die Regierung die Mahnungen aus der Wirtschaft verstanden. Es muss eine „Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten“ geben, um die personelle Not in den Bereichen Pflege, Dienstleistungen, Bau, Handwerk und Industrie zu lindern. Wer sich erinnert, wie massiv lange Zeit der Widerstand gegen diese Einsicht war, kann ermessen, wie beachtlich nun die Akzeptanz der Realität ist.

Das gilt auch für den zweiten Punkt der Einigung, den „Spurwechsel“, der nicht so genannt werden darf. Wörtlich steht in dem Entwurf: „Wir werden im Aufenthaltsrecht klare Kriterien für einen verlässlichen Status Geduldeter definieren, die durch ihre Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt sichern und gut integriert sind.“

Mit anderen Worten: Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, wird trotzdem nicht automatisch abgeschoben. Es wäre ja auch ökonomischer Wahnsinn, deutsche Steuergelder in Sprachkurse, Unterbringung, Sozialhilfe und Ausbildung von Migranten zu investieren, um am Ende eine Fachkraft, die durch ihre Arbeit hilft, das deutsche Sozialsystem zu sichern, wieder abzuschieben.

Bei aller Euphorie: Es ist nur ein Entwurf, noch kein Gesetz, die Maßnahmen kommen spät, sind unkonkret und unausgegoren. Aber deutlich wie selten haben sich die Unionsparteien beim Thema Migration bewegt, sich von Dogmen und Illusionen verabschiedet.

Trippelschritt für Trippelschritt. Sozialdemokraten, Grüne, Linke und Liberale fordern das seit langem – und seit langem mehr. Doch dass nun auch CDU und CSU die Zeichen der Zeit erkannt haben – und sich eine große deutsche Einheit (von der AfD einmal abgesehen) zum Tag der deutschen Einheit formiert -, ist ein hoffnungsvoller Beitrag zu Angela Merkels Prophezeiung „Wir schaffen das“.

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