zum Hauptinhalt

Politik: Fahles Orange in Kiew

Das Lager der Revolutionäre ist zerfallen – nun wollen die Wahlfälscher von einst ihr Comeback erstreiten

Er sieht müde aus. Und es liegt nicht an den Narben, die noch immer Viktor Juschtschenkos Gesicht entstellen, seit jenem Giftanschlag, den der Präsident heute „Preis für die Demokratisierung“ der Ukraine nennt. Nein, Juschtschenko ist es müde, Ausländern Erfolge präsentieren zu müssen, von denen er weiß, dass sie aus westlicher Sicht unbefriedigend wirken müssen. Immer wieder kontrastiert er deshalb das Erreichte mit den Zuständen vor seinem Amtsantritt: „Ein Land ohne freie Meinungsäußerung und unabhängige Gerichte“ sei die Ukraine gewesen – mit gigantischer Schattenwirtschaft, mit Beamten, die privatisiertes Staatseigentum Verwandten und Günstlingen zuschanzten, „wie unter Katharina der Zweiten“. Ein solches Land könne man nicht gewaltsam umkrempeln, sondern nur Schritt für Schritt verändern.

Ob Juschtschenko das gelungen ist, darüber wird heftig gestritten in der Ukraine. Gut ein Jahr ist vergangen seit jener „orangenen Revolution“, der der Präsident sein Amt verdankt, und zahllose Rückschläge haben seitdem die anfängliche Euphorie der Bevölkerung gebremst. Juschtschenkos ehemalige Mitstreiterin Julia Timoschenko verrannte sich als Regierungschefin in einen Privatfeldzug gegen die Oligarchen der Ostukraine, anstatt rationale Wirtschaftspolitik zu betreiben. In der Folge sank das Wirtschaftswachstum von 13 auf unter drei Prozent, die Preise zogen an, der Gasstreit mit Russland endete mit einem unausgegorenen Kompromiss. Das orangene Lager zerfiel, Juschtschenko verbannte seine ehemalige Verbündete aus dem Amt – und hat seitdem kaum mehr als Polemik für Timoschenko übrig.

Timoschenko selbst hat die Hoffnung auf eine Rückkehr ins Amt allerdings keineswegs aufgegeben. Bei den Parlamentswahlen an diesem Sonntag tritt sie mit ihrer eigenen Partei an. Umfragen sagen der charismatischen Politikerin etwa 17 Prozent voraus – und damit rangiert sie nur knapp hinter der präsidentennahen Partei „Nascha Ukraina“. Ganz vorne in der Wählergunst aber liegt mit über 30 Prozent die „Partei der Regionen“ – die Machtbasis des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch, gegen dessen Wahlfälschungen die Menschen einst auf die Straße gegangen waren. Nach wie vor punktet Janukowitsch vor allem in der Ostukraine – aber zunehmend auch bei jenen Wählern, die enttäuscht sind von Juschtschenkos demokratischem Schlingerkurs und den Intrigen im Lager der Orangenrevolutionäre. Eine Wiederauflage des Revolutionsbündnisses gilt als höchst unsicher.

48 Parteien treten an, der Wahlzettel misst einen knappen Meter, und ein klares Programm lässt sich keiner der Gruppierungen zuordnen. Kein Wunder, dass in der Bevölkerung Polit-Zynismus um sich greift: Auf dem Chreschtschatik, dem zentralen Boulevard der Hauptstadt Kiew, propagieren junge Aktivisten seit Wochen einen Komplett-Boykott der Parlamentswahlen. Wie zu Revolutionszeiten lodern vor ihrem Stand Blechtonnen - aber nicht mehr, um zu wärmen, sondern um Wahlkampfbroschüren zu verbrennen. Juschtschenko-Porträts verschrumpeln in den Flammen neben Bildern von Timoschenko, und wer mehr als ein Kilo Agitationsmaterial in die Tonne wirft, bekommt eine Flasche Wodka geschenkt.

Dabei ist das bunte Broschürengewirr, mit dem die Parteien in den letzten Wochen den Chreschtschatik überschwemmten, in gewisser Hinsicht ein Fortschritt: Dass Wahlen nicht ohne Wähler zu gewinnen sind, scheint seit der Revolution niemand mehr in Frage zu stellen, und vorher galt es keineswegs als selbstverständlich. Nun aber, wo alle Parteien die Agitationsmechanismen der orangenen Revolution kopieren, fällt die politische Leere hinter den bunten Fassaden umso mehr ins Auge: „Egal, welche Partei ich wähle“, sagt eine der jungen Boykott-Aktivistinnen, „ich habe keine Ahnung, was nach der Wahl passiert.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false