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Politik: Fahrstuhl in den Orkus

In einem eisernen Käfig fuhren die 20 angeklagten Nazis vom Gefängniskeller in den Nürnberger Schwurgerichtssaal 600. Da wurde ihnen vor 60 Jahren der Prozess gemacht. Auf den Spuren des ersten internationalen Gerichtshofs der Geschichte

Im Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes läuft gerade eine Verhandlung wegen versuchter Tötung. Ein Mann soll seine Freundin mit einem Tranchiermesser niedergestochen haben. Der Angeklagte, ein schon ergrauter Mensch in grauem Pullover und mittlerem Alter, sitzt an der linken Saalwand ungefähr dort, wo vor 60 Jahren der Architekt und Kriegsminister Albert Speer gesessen hat. Noch gut fünf Meter näher an den Zuhörern hinter der hölzernen Schranke war der Platz von Hermann Göring beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der an dieser Stelle am 20. November 1945 begann.

Die zwei Reihen der leicht erhöhten Anklagebank ähneln, auch wenn es nicht mehr die Originalstühle sind, durchaus noch der auf Fotos und in Filmen festgehaltenen Szenerie des ersten internationalen Militärgerichtshofs der Weltgeschichte. Und der Saal ist fast unverändert. Hinter den Zuhörern, wo die Amerikaner 1945 für die internationale Presse eine Wand zur Vergrößerung des Raums und zum Einbau einer Besuchergalerie herausbrachen, hat man 1960 die Mauer wieder geschlossen. Im Übrigen aber sind die dunkle Holztäfelung der Wände und die mächtigen grünen Marmormedaillons über den Portalen ganz original; nur die Richter sitzen heute nicht mehr wie im Kriegsverbrecherprozess den Angeklagten an der Längswand gegenüber, sondern auf der Stirnseite des Saals: über sich die Waage der Justitia und, wie in Bayern üblich, ein großes Kreuz.

Der im zerstörten Nürnberg wie durch ein Wunder fast unversehrt gebliebene Justizpalast war 1945 nach einiger Suche in anderen Städten sehr bald der Wunschort der Amerikaner für das Tribunal. Die Westalliierten wollten keinesfalls Berlin als Schauplatz, weil sie inmitten der sowjetischen Besatzungszone einen direkteren Zugriff Stalins fürchteten. So zog man in den wilhelminischen Trutzbau am Westrand von Nürnberg. Das Quartier südlich davon heißt sinnigerweise Sündersbühl, etwas weiter östlich liegt der Stadtteil Galgenhof. Und im Saal 600 starrt vom Hauptportal schräg hinter der Anklagebank das marmorne Schreckenshaupt der antiken Gorgo herab, darüber dräut neobarock der biblische Sündenfall.

Dieser Wandschmuck saß den Prominentesten der über 20 angeklagten NS-Größen, also Hermann Göring, Rudolf Hess, Ex-Außenminister von Ribbentrop und Wehrmachtschef Keitel, als Symbol gleich im Nacken. Ein paar Meter rechts von dem mythologischen Bild erkennt der Betrachter hinter der Anklagebank noch eine kleine Metallplatte mit zwei Druckknöpfen in der Wandtäfelung. Dort verbirgt sich, was dem Ort auch nach 60 Jahren noch einen Rest Unheimlichkeit verleiht. Es ist der Lift in den Orkus.

Jedes Mal, wenn die Angeklagten des Internationalen Tribunals den Saal am Morgen betraten und nach einer Mittagspause und der folgenden Nachmittagsverhandlung wieder in das hinter dem Justizpalast gelegene Gefängnis gebracht wurden, glitt ein Stück der Wandtäfelung zurück. „Wie von Geisterhand“ – so schilderten es Prozessbeobachter vor 60 Jahren: fasziniert davon, wie die einstigen Herren der NS-Welt aus der kurz geöffneten Tür in der Wand hinaus ins Licht traten und am Ende dahinter wieder im Dunkel verschwanden.

„Der Lift geht noch, er wird bis heute benutzt“, sagt Klaus Kastner. Er war hier als Präsident des Landgerichts Nürnberg bis zu seiner Pensionierung 2001 gleichsam Hausherr. Inzwischen ist der 69-jährige agile Jurist, Honorarprofessor und Historiker, ein gebürtiger Nürnberger, der wohl beste Kenner des damaligen Weltgerichts, dem er mehrere exzellente Bücher gewidmet hat (zuletzt „Die Völker klagen an“, Primus Verlag). Über 50000 Besucher aus allen Kontinenten kommen im Jahr, um den Schwurgerichtssaal 600 an sitzungsfreien Tagen zu sehen. Heute wird dort verhandelt und wir schleichen uns wieder leise aus dem Raum. Aber ich bitte Klaus Kastner, einen Blick in den legendären Lift werfen zu können. Für fast jeden Raum hat der ehemalige Gerichtspräsident noch seinen Generalschlüssel. Nur nicht für den Lift, der aus dem im zweiten Stock des Justizpalastes gelegenen Saal hinab in den Keller und zu einem unterirdischen Verbindungsgang zum Gefängnistrakt führt.

Kastner lässt vom Pförtner in charmantestem Fränkisch den Hauswart rufen, Justizhauptwachtmeister R. Ihm folgen wir wieder hinauf vor den Haupteingang des Saals. In einer Nische neben dem marmorgefassten Portal befindet sich eine schlichte, kleinere Tür. Herr R. zieht seinen Schlüsselbund und öffnet die Außentür eines schwarzgrauen Metallgehäuses. Das Liftinnere birgt drei schmale, nochmals mit Gittertüren abgeteilte Zellen. Die mittlere, relativ größte muss selbst für den durch Drogenentzug und Gefängniskost abgespeckten ehemaligen Reichsmarschall Göring sehr eng gewesen sein. Hinter einer gepanzerten Schiebetür zur anderen Seite liegt der Gerichtssaal.

Ich schlüpfe in die mittlere Zelle, die schwarze Eisentür wird geschlossen, davor stehen die Herren Kastner und R. wie einst die weißbehelmten zwei US-Militärpolizisten, die vor 60 Jahren hier jeden der Angeklagten eskortierten. Dann setzt sich der betagte Lift nach unten in den Gefängniskeller des Gerichts in Bewegung. Am Nachmittag des 1. Oktober 1946, als man den zuvor schuldig Gesprochenen nach angelsächsischem Recht jeweils einzeln noch ihr Strafmaß verkündete, war es für Göring und zehn weitere wegen Völkermord und Kriegsverbrechen zum Tode Verurteilten die letzte Fahrt. Sie dauert genau 18 Sekunden.

Dann öffnet sich der düstere Käfig zu einem gut 20 Meter langen Kellergang. Im Betonboden auf halbem Weg ein schwarzes Eisengitter aus dem Zweiten Weltkrieg mit der Gravur „Mannesmann-Luftschutz“. Am Ende des Gangs liegen noch vier „Zwischenaufenthaltszellen“ mit den verblichenen schwarzen Nummern 10 bis 13, in einer das typische Klosett ohne Brille neben der Tür. Im Hauptkriegsverbrecherprozess werden die Angeklagten dort vor dem Lift nach oben gewartet haben, ebenso wie als inhaftierter Zeuge der später nach Polen ausgelieferte Auschwitz-Kommandant Höß. Ein weiterer 30 Meter langer Gewölbegang führt dann zu einem geschlossenen Eisentor. Dahinter beginnt der Bereich der heutigen Justizvollzugsanstalt.

Eine Treppe führte von hier zum Ostflügel des 1860 erbauten Gefängnisses, in dem die letzten Herren des Dritten Reichs ihre Zellen hatten. Wo Göring in der Nacht zum 16. Oktober 1946 kurz vor seiner Hinrichtung eine ihm auf nie geklärte Weise zugeschmuggelte Zyankalikapsel zerbiss. Doch wurde jener Teil des Gefängnisses vor 20 Jahren abgerissen, ebenso wie die daneben gelegene kleine Turnhalle: der Hinrichtungsort, bis 1983 dann Gefängnisschreinerei. Jetzt sieht man aus den rückwärtigen Fenstern des Justizpalastes dort eine Lagerhalle, vor der ein paar Gabelstapler rangieren.

Abriss und gar Verdrängung sind in Nürnberg heute nicht mehr die Devise. Die Stätte der mittelalterlichen Reichstage, die Stadt Dürers, der Wagner’schen „Meistersinger“, der Bratwürstl und des in ganz Fußballdeutschland noch immer nur „Club“ genannten 1. FCN, sie konfrontiert sich ihrer jüngeren Geschichte inzwischen so offensiv, dass es dafür sogar eine Auszeichnung der Vereinten Nationen gab.

Vor vier Jahren wurde in einer Halbruine des monumentalen Naziparteitagsgeländes eine eindrucksvolle Dokumentationsstätte mit der Dauerausstellung „Faszination und Gewalt“ eröffnet. Historiker des Dokumentationszentrums führen auch in den Saal der Nürnberger Prozesse, es gibt dazu allerlei informative Internetauftritte (www.nuernberg.de oder www.bz.nuernberg.de); und noch bis ins Jahr 2006 hinein zeigt das Dokumentationszentrum am Parteitagsgelände zwei vorzügliche Ausstellungen zur Geschichte der Nürnberger Rassegesetze und zum Gesamtwerk von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl, die beim NS-Parteitag 1934 den „Triumph des Willens“ drehte.

Sichtbarster Ausdruck des „neuen Nürnberg“ ist freilich die „Straße der Menschenrechte“: die Verwandlung der alten Kartäusergasse in eine lichte Säulen-Allee mit den eingravierten Artikeln der UN-Menschenrechtscharta, 1993 vom israelischen Künstler Dani Karavan entworfen. Was freilich kaum ein Stadtbesucher weiß: Wo die neue Menschenrechtsstraße an der Altstadtmauer endet, liegt gegenüber, neben dem Opernhaus, der „Deutsche Hof“. Es war einst das „Führer-Hotel“ und Hitler erhielt als persönliche Residenz einen Anbau. In diesem heute dank abmontiertem „Führerbalkon“ eher unscheinbaren Gebäude saß nach dem Krieg die erste Zentrale der neu gegründeten Bundesanstalt für Arbeit. Und einen Steinwurf weiter wurden vor 70 Jahren im Konzertsaal des „Industrie- und Kulturvereins“ die Juden ausgrenzenden Nürnberger Gesetze beschlossen.

Das geschah bei einer von Göring improvisiert einberufenen Reichstagssitzung – weil Hitler während des Parteitages im September 1935 aus einer Laune heraus ein besonderes Zeichen setzen wollte. So wurde „Nürnberg“ gleichsam über Nacht zu einem Menetekel der Menschenrechtsverletzung. Heute firmiert an der durch einen Betonbau ersetzten historischen Stätte eine Zweigstelle der AOK.

Die Geschichte holt uns an unverhofften Orten ein. Das wird am Morgen dieser Reise auf den Spuren des Nürnberger Weltgerichts auch Frau G. erfahren. Plötzlich stehen der Reporter aus Berlin und der ehemalige Gerichtspräsident vor ihrem Gartentor in der Nikolaistraße im Nürnberger Villenvorort Erlenstegen. Ich klingle wie ein Hausierer an der namenschildlosen Tür, und Professor Kastner, mein geduldiger Stadt- und Geschichtsguide („Bitte sagen Sie nicht Führer, ich bin lieber Ihr Cicerone!“), er lächelt im grauen Anzug mit Fliege amüsiert über die journalistische Neugier. Frau G., deren Namen wir später erfahren, öffnet die Tür der familiären Zwanzigerjahre-Villa zunächst nur einen Spalt, wir stellen uns vor und Kastner sagt über den Gartenzaun hinweg: „Ihr Haus ist von historischem Wert!“

Frau G., über die unerwartete Aufmerksamkeit freundlich verwirrt, lässt uns eintreten. Es ist das so genannte „Zeugenhaus“. Wie in einer Fremdenpension hatten die Amerikaner hier ab Herbst 1945 wechselnde Zeugen der Anklage und der Verteidigung untergebracht. Plötzlich befanden sich Opfer, Mitläufer und frühere Mittäter in sechs oder sieben Zimmern unter einem Dach. Im Obergeschoss hatte monatelang Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann logiert, der in Ungnade gefallene und nach dem 20. Juli 1944 verhaftete Gründer der Gestapo, Rudolf Diels, war zu Gast, ebenso der aus dem KZ-Buchenwald befreite Publizist Eugen Kogon und, unter falschem Namen, der als deutscher Zeuge zu den Hinrichtungen am 15. Oktober bestellte Emigrant Wilhelm Hoegner, später Bayerns einziger SPD-Ministerpräsident.

Während des Prozesses gab es hier Kräche, Nervenkrisen und Liebschaften. Eine attraktive ungarische Gräfin führte als Hausherrin im US-Auftrag die Regie, und ein deutscher Oberst, der zu den Massengräbern in Katyn aussagen sollte, wo Stalin, wie man erst später erfuhr, tausende polnische Offiziere erschießen ließ, wäre beinahe vom sowjetischen Geheimdienst entführt und dann wohl beseitigt worden. Jetzt hängen in den einstigen Gästezimmern Poster von Michael Ballack, der frühere Speiseraum mit Eichenanrichte ist ein lichtes, modern renoviertes Esszimmer, und das alte, originale Parkett wurde hell abgezogen. Vor einem Jahr ist Frau G., eine gebürtige Fränkin, mit ihrem Mann und drei Kindern von Krefeld wieder zurück nach Nürnberg gezogen, sie haben das hübsche, unauffällige Haus mit kleinem Garten gekauft – und von der Vorgeschichte war ihnen nichts Näheres bekannt. Nachbarn hatten ihnen zuletzt etwas zugeraunt, darum hat sich Frau G. das eben erschienene Buch der Journalistin Christiane Kohl gekauft. Es heißt „Das Zeugenhaus“ und ist die Geschichte dieses Hauses. Noch liegt das Buch eingeschweißt in Plastikfolie auf dem Esstisch, doch Frau G. sagt beim Abschied: „Das wird jetzt schnell gelesen!“

Kleine Geisterfahrt. Es gibt kaum mehr lebende Zeugen, aber noch immer ein paar Spuren in alten Gasthäusern oder im noblen Grandhotel am Nürnberger Hauptbahnhof, wo der Prozess im marmornen Richard-Wagner-Saal zur Musik des jungen Dave Brubeck tanzte. Nürnberg 1945/46 war so kurz nach dem Weltkriegsende ein Weltereignis. Die Geburtsstunde nicht nur eines neuen Völkerrechts, auch die der Simultanübersetzung. Daran hat soeben ein Kongress in Athen erinnert. Und natürlich kamen die Starreporter, kamen die Schriftsteller und viele Emigranten, um zu sehen und zu berichten.

Das ausländische Pressecorps hatten die Amerikaner im historistischen Schloss der Bleistift- und Füllfeder-Dynastie Faber-Castell einquartiert, am Rande der Stadt. Man kann seit kurzem die historischen Säle besichtigten, wo auch empfindliche und illustre Geister auf Feldbetten zu mehreren in einem Raum campierten. Erika Mann, Janet Flanner, Gregor von Rezzori und Alfred Döblin waren hier zu Gast, der noch unbekannte Willy Brandt mit norwegischem Pass, Markus Wolf als Reporter des Berliner Rundfunks mit einem abgelaufenen russischen Ausweis. Und die großen Amerikaner.

Einmal sollen John Steinbeck, Ernest Hemingway und John Dos Passos, quite a sandwich, gemeinsam die Waschgelegenheit der Grafen Faber-Castell geteilt haben: Der Raum ist ein Spuktraum aus Marmor, Stein und Gusseisen, der tollste Jugendstilbadesaal, den es gibt. Vor 20 Jahren sind hier noch einmal Burt Lancaster und Bruno Ganz eingezogen, nebenan badete Julie Christie – da drehte Bernhard Sinkel im fast vergessenen, längst unbewohnten Faber-Schloss die deutsche Industriellen-Saga „Väter und Söhne“.

Heute hat sich die Weltfirma Faber-Castell auch der Nürnberger Prozessgeschichte erinnert. Es gibt im Schloss dazu eine kleine Ausstellung im Rahmen der Firmenhistorie, die soeben auch den 100. Geburtstag des grün lackierten „Faber Castell 9000“ feiert. Günter Grass, der diesem Rolls Royce unter den Bleistiften schon im Roman „Ein weites Feld“ gehuldigt hat, er ist zur Eröffnung mit neuen Zeichnungen gekommen. Doch magischer als die Kunst wirken im nächsten Saal zwei abgeschabte, rot gepolsterte Kinosessel, die einst zur Pressetribüne im Kriegsverbrecherprozess gehörten.

Zurück im Justizpalast, der ab 2007 zu Teilen ein Museum werden soll. Wir sitzen an einem langen blanken Nussbaumtisch im Beratungszimmer neben dem Schwurgerichtssaal 600. An ihm haben schon die Richter der vier Siegermächte das Urteil von Nürnberg gefällt. Neben der Tür zum Saal hängt nun ein Porträt des Philosophen Ernst Bloch, Autor des „Prinzips Hoffnung“. Dies mag ein diskretes Zeichen sein. Vom Haager Tribunal bis zum Verfahren gegen Saddam Hussein – ohne das Exempel von Nürnberg gäbe es für Staatsverbrechen und Diktatoren wohl bis heute keine Gerichtsbarkeit.

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