zum Hauptinhalt
Nicht eingesperrt: Menschen sitzen im Volkspark Friedrichshain und genießen das gute Wetter.

© dpa

FDP-Chef Lindner und die Bürgerrechte: Spüren Sie diktatorischen Zwang bei der Einhaltung der Corona-Maßnahmen?

Die Regierung verpasse uns Bürgern in der Corona-Krise einen Maulkorb, sagt manch einer. Ich empfehle ich einen Blick in andere Länder. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Hatice Akyün

Erinnern Sie sich noch an die erste Corona-Krisenwoche, in der es ausschließlich darum ging, sachlich zu informieren? Wie intellektuell erholsam es war, als Zahlen, Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse im Vordergrund standen. Man hatte das Gefühl, dass weder Wirtschaft noch Stammtische darüber entscheiden, welche Maßnahmen die politischen Verantwortlichen umsetzen.

Nach zermürbenden Jahren, in denen Debatten von jenen dominiert wurden, die die lautesten, absurdesten und krudesten Parolen krakeelen, glaubte ich kurz daran, dass diese Krise vielleicht doch etwas Gutes bewirken könnte. Nämlich, dass Populisten in Zukunft keine Chance mehr haben werden, den politischen Diskurs zu bestimmen.

Wie schade, dass die überparteiliche Vernunft schon wieder vorbei ist. FDP-Chef Christian Lindner, bekannt für seine inhaltslosen Sätze seit dem letzten Bundestagswahlkampf, den anschließenden Jamaika-Sondierungsgesprächen und seine Winkelrhetorik nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen, hat so viel Sachlichkeit einfach nicht mehr ausgehalten.

Er sagte: „Die Regieanweisungen aus der Regierung, darüber öffentlich nicht zu sprechen, überzeugen uns schon einige Zeit nicht mehr. Schutzmasken sind sinnvoll, Maulkörbe nicht.“ Und per Tweet schrieb er, dass es Aufgabe einer liberalen Partei sei, Eingriffe in Bürgerrechte fortwährend zu hinterfragen.

Deutschland ist kein Unrechtsstaat geworden

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber fühlen Sie sich um Ihre Bürgerrechte betrogen? Empfinden Sie diktatorischen Zwang bei der Einhaltung der Schutzmaßnahmen? Fühlen Sie sich eingesperrt in Ihrer Wohnung? Mussten Sie sich bisher auch nur einen einzigen Satz verkneifen aus Angst vor Repressalien?

Haben Sie das Gefühl, nur heimlich das Haus verlassen zu dürfen und vermuten hinter jeder Ecke einen Polizisten, der sie verhaftet? Denken Sie, dass Deutschland über Nacht zu einem Unrechtsstaat geworden ist? Ich nicht!

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]

Das mag vielleicht daran liegen, dass ich sehr genau weiß, was es bedeuten kann, wenn man zum Beispiel als Journalist oder Journalistin seine Meinung schreibt. In der Türkei sitzt man deshalb im Gefängnis. Ich kenne Leute, die morgens mit einer gepackten Tasche zur Arbeit gehen, weil sie nicht wissen, ob sie abends wieder nach Hause kommen.

Wenn Sie jetzt denken, ach, das ist ja die Türkei, dann schauen Sie mal nach Ungarn und Polen. EU-Länder, die ihre Demokratie und ihren Rechtsstaat über Nacht abgeschafft haben. Die Grundpfeiler einer Demokratie sind politische Reibung, Dinge hinterfragen zu können und Konsens zu finden.

Die Leitplanke der Fakten

Es bedeutet, als verantwortungsvoller Politiker und verantwortungsvolle Politikerin dem süßen Gift nach einfachen Lösungen zu widerstehen. Gerade in einer Krise, in der niemand mit Erfahrung punkten kann, ist es umso wichtiger, den Bürgern und Bürgerinnen eine auf Fakten basierende Leitplanke zu geben, damit sie sich in der Flut von Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien zurechtfinden.

Denn je ungenauer formuliert wird, desto größer wirkt sich das auf die Angst der Menschen aus. Wenn sogar Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht wissen, wie sich die Situation weiterentwickeln wird, sollten Politiker und Politikerinnen umso vorsichtiger sein mit dem, was sie von sich geben. 

Oppositionelle in der Türkei, Russland und China staunen über unser Verständnis von Demokratie und Freiheit. Wer den Unterschied zwischen Maulkorb und Kritik nicht mehr spürt, hat entweder seine politische Bildung verloren oder nie welche gehabt.

Zur Startseite