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Finanzkrise: Was ist dem Kapitalismus die Demokratie wert?

1. Parallelkommunikation Wer zu neuen Ufern aufbrechen will, muss sich mit dem Zustand der Demokratie nach der Finanzkrise beschäftigen.

1. Parallelkommunikation

Wer zu neuen Ufern aufbrechen will, muss sich mit dem Zustand der Demokratie nach der Finanzkrise beschäftigen. Dazu ein Tageseindruck: Im Tarifstreit des öffentlichen Dienstes argumentiert die Arbeitgeberseite, also der Staat, mit der Lage der Staatskassen. Die Forderungen seien nicht bezahlbar. Irgendwie einleuchtend, nach dem Kriseneinbruch mit der hohen Staatsverschuldung.

Das kleine Problem: Der Staat sagt das Menschen, die genau wissen - nein, ich rede jetzt nicht mit den 5 Milliarden Gewinnen der deutschen Bank oder irgendwelchen Boni oder mit der Hotelmehrwertsteuer - der Staat sagt das Menschen, die genau wissen, dass jemand wie ich Ende Januar 20 Euro mehr Kindergeld auf dem Konto hatte, und als Besserverdienende sogar über Steuerfreibetrag mehr als die 20 Euro monatlich profitieren werde. Warum kann der Staat für mich Geld ausgeben, weil das angeblich Wachstum bringt, nicht aber für das Einkommen der schlecht bezahlten Krankenschwestern, die es doch viel eher in Konsum ummünzen würden?

Diese Art von öffentlicher "Parallelkommunikation" ist durchweg kennzeichnend, wenn es um die Frage geht, ob und wie die Finanzkrise nun ausgestanden sei oder nicht. Der Haupttrend ist das Kleinreden, im Wahlkampf schien alles ja so gut wie ausgestanden. Aber es zeichnet sich ab, dass die Finanzkrise, wahrscheinlich nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen, als Sachzwangargument zurückkehren wird. Dann muss der Gürtel enger geschnallt werden - und gleichzeitig die überzogenen Steuersenkungsversprechen aus dem Wahlkampf gerettet werden müssen.

Im zweiten Jahr nach dem Aufbrechen der Krise ergäbe sich dann folgendes Bild: Die Retter der Welt, nämlich die Staaten, zu denen unserer ja auch gehört, bezahlen die Geiselhaft, in die sie sich begeben mussten. Und zwar mit einer Schwächung des öffentlichen Sektors - die wiederum vor allem die Menschen trifft, die ihn am meisten brauchen und am wenigsten für die Finanzkrise verantwortlich sind. Gleichzeitig werden trotz hoher Schulden Steuern gesenkt.

Eine außerordentlich unbehagliche Vorstellung. Denn das wäre sehr ungerecht, und fast unvermeidlich eine Schwächung der Demokratie: Ihre absehbare Folge wäre die zunehmende Abwendung der demokratischen Akteure von der Politik. Artikel 20 des Grundgesetzes nennt sie kollektiv "das Volk".

2. Wir sind die Zauberlehrlinge, nicht die Meister

Der gemeinsame Kern des Phänomens in allen westlichen Demokratien, das wir in Deutschland "Politikverdrossenheit" nennen, basiert auf dem zutreffenden Gefühl, dass die Politik in den letzten 20 Jahren das Gerechtigkeitsversprechen nicht mehr einlösen kann, das in Deutschland zu einer hohen Akzeptanz des politischen Systems und der Marktwirtschaft geführt hat. Früher als die öffentlichen Kasten - Politik, Wirtschaft, Medien - haben die normalen Bürger wahrgenommen, dass das gesellschaftliche Gefüge sich zu ihren Ungunsten verschoben hat. Tatsächlich ist ja nicht zu bestreiten, dass die Globalisierung den Sozialstaat unter Druck und den wirtschaftlichen starken Akteuren neue Möglichkeiten gebracht hat, den sie auch als erpresserischen Druck auf die Politik einsetzen konnten. Die Politik aber zahlt den Preis. Vereinfacht gesagt: Während die Gehälter in den Vorstandsetagen der Finanz- aber auch der Wirtschaftswelten kräftig stiegen, ist das Ansehen von Politik und Politikern stetig gesunken.

Wir haben zwei Jahrzehnte hinter uns, in denen eine als pragmatische Politik getarnte Ideologie des freien Marktes dominiert hat. Der Streit, ob die Krise in erster Linie staatsinduziert und deshalb staatliches Versagen ausdrückt oder ob vielmehr in erster Linie von Marktversagen gesprochen werden muss, hat auch etwas Albernes. Dass Märkte, Wirtschaft, ja sogar die Gesellschaft am besten gedeihen, wenn die Politik sie in Ruhe lässt, war das dominierende Deutungsmuster, dem mehr oder weniger alle nachgelaufen sind. Doch die "unsichtbare Hand", die die Rationalität der Märkte wie von selbst herstellt, hat es nicht gegeben. Stattdessen waren viele konkrete Hände am Werk, die mit den faulen Krediten Verantwortung und Haftung verschoben haben. Verantwortung und Haftung sind aber Säulen demokratischer Gesellschaften und der Marktwirtwirtschaft.

Die Finanzakteure nun haben sich in jeder Hinsicht als Zauberlehrlinge erwiesen. Diese Krise hat nur durch den Einsatz aller großen neuen Triebkräfte unserer Zeit diese Dimension entfalten können. Dass die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die Rolle von Brandbeschleunigern im Umgang mit Geld gespielt haben, ist uns geläufig. Dass sie auch die große Bühne für den Zeitgeist, die Jagd nach Ruhm, Macht und schnellem Aufstieg waren, schon weniger. Die ehrliche Bilanz kann nur lauten: Wir leben in einem revolutionären Zeitalter, technologisch und sozial. Aber vorerst sind wir nicht Meister der Maschinerien, die wir geschaffen haben, sondern ihre Getriebenen. Und wenn wir nicht aufpassen: nur die Zauberlehrlinge.

3. Nie wieder Tina

Einer der folgenschwersten Sätze aus diesen 20 Jahren stammt von Margret Thatcher: There ist no alternative. TINA war die große geistige Patin des Deregulierungszeitalters. Denn das Denken ohne Alternative war eine wesentliche Voraussetzung dafür, das urdemokratische Prinzip der kritischen Kontroverse auszuhebeln. Es hat sie ja gegeben, die am Straßenrand gerufen haben: Der Kaiser ist doch nackt. Hören musste man sie nicht, denn sie waren Out. Meine persönliche berufsethische Lehre aus der Finanzkrise lautet deshalb: Bloß aufgepasst, wenn wieder einmal etwas als alternativlos ausgegeben wird, wenn eine Meinung so dominant wird, dass jeder Kritiker so dasteht, wie weiland der Sparkassendirektor, der Gewerkschafter oder der Sozialarbeiter - als Spießer oder Depp, der die Chancen der Zeit nicht begriffen und Angst vor ihren Herausforderungen hat.

Das Tina-Denken hat viel unter die Räder gebracht, was uns vor dem Ausmaß der Krise vielleicht hätte schützen können: Den gesunden Menschenverstand der kleinen Leute zum Beispiel, denen aus schlichter Lebenserfahrung nie eingeleuchtet hat, dass jeder und jede 20 Prozent Rendite machen kann. Grundbegriffe der Demokratie haben unter dem Einfluss von Tina eine seltsame Karriere gemacht. Die Tugend der Skepsis wurde zur Bedenkenträgerei umgedeutet, und als Gleichmacher galt schnell, wer Gleichheit gefordert hat. Aber ohne staatsbürgerliche Gleichheit gibt keine Demokratie, deshalb ist und bleibt Gleichheit ein schöner Begriff. Er drückt zudem einen großen menschlichen Ehrgeiz aus, nämlich den, aus der gegebenen Ungleichheit der Menschen das Beste zu machen, statt dem Recht des Stärkeren nachzugeben. Als irgendwie lästig galt auch der Ruf nach Gerechtigkeit.

Dabei hat doch Augustinus bis heute Recht, der gesagt hat, dass Staaten, die nicht der Idee der Gerechtigkeit folgen, nichts anderes als große Räuberbanden sind. Ganz große Karriere machte hingegen die Freiheit, und zwar derart, dass sie schließlich vielen Menschen eher als Drohung denn als Verheißung in den Ohren klang. Denn sie wurde erstrangig als die der Märkte reklamiert, auf denen - im September 2008 wurde es für jedermann sichtbar - die Freiheit von Wenigen grenzenlos geworden war. Folgenreich und zulasten der ganz normalen Bürger, deren staatsbürgerliche Gleichheit erst wieder hergestellt wurde, als es um die Kosten der Casinofreiheiten ging. Die seltsamen Begriffskarrieren dieser Zeit haben eine traurigen Kern: Sie haben die Ideale der Demokratie - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - degradiert.

4. Der demokratische Kapitalismus hat nicht gesiegt

Alternativen muss es eben auch geben, wenn wir heute - nach der Erfahrung mit den unregulierten Märkten - nach Staat und Markt fragen. Seit 1989 wissen wir, dass die Marktwirtschaft der Sieger der Geschichte ist. Zehn Jahre später haben wir begriffen, dass von ihrem Ende trotzdem nicht die Rede sein kann. Heute haben wir allen Grund danach zu fragen, was und wie viel dem Kapitalismus die Demokratie wert ist. Denn die hat doch keineswegs weltweit gesiegt. Gibt es nicht, ganz im Gegenteil, in ganz anderen Formen (in globaler Vernetzung) so etwas wie einen neuen Systemstreit, nämlich darum, ob demokratisch-rechtsstaatliche Gesellschaften erfolgreicher, gerechter, nachhaltiger sind als autoritäre oder gar diktatorische Marktwirtschaften. Die naiv-optimistische Hoffnung, dass nach dem totalen Scheiterns des Sozialismus so etwas wie ein Selbstlauf in weltweit demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse stattfinden würde (nur dass man nicht wusste, wie lange er dauert), war eine undurchdachte Verlängerung der Erfahrungen mit der Entspannungspolitik. Dem Wandel durch Annäherung ist zwar ein Wandel durch Handel und Vernetzung gefolgt.

Doch Kapitalismus und Demokratie sind keine natürlichen Geschwister. Erst der Wohlstandskapitalismus, der bis zum Ende des 20 Jahrhunderts hohe Akzeptanz den Bevölkerungen gefunden hatte, war die attraktive Herausforderung des Sozialismus. Wäre es beim Manchesterkapitalismus geblieben, sehe die Welt vermutlich anders aus.

Dass nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Erfolgsgeschichte der freiheitlichen Marktwirtschaften beginnen konnte, verdanken sie eben auch der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, der christlichen Soziallehre, den Suffragetten und Blaustrümpfen. Kurz: den Anstrengungen aller politischen Bewegungen, die sich dem verwegenen Gedanken verschrieben haben, dass Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (oder zeitgemäßer: Solidarität) für alle Menschen gelten sollen. Diese politischen Bewegungen erst, nicht die Märkte selbst, haben die Voraussetzungen für den Siegeszug der Marktwirtschaft geschaffen.

5. Es gibt immer Alternativen, sogar zur Marktwirtschaft

Wenn Ihr Institut, wenn Politiker oder Unternehmer heute nach Staat und Markt fragen, dann muss klar sein, dass es ein berechtigtes Bedürfnis gibt, "den Markt" zu hinterfragen. Ich habe es immer als Abwehr dieser legitimen und notwendigen Fragen verstanden, wenn unmittelbar nach der Anrufung des Staates als Retter in der Not sogleich öffentliche Stimmen mit hohem Tremolo zur Verteidigung der Marktwirtschaft aufgerufen haben.

Ein Abwehrbluff, Fortsetzung von Tina mit andern Mitteln. Denn die Marktwirtschaft und erst recht das Ansehen der soziale Marktwirtschaft war doch keine Minute in Gefahr. Nicht durch die Staats-Garantie der Sparkonten, die Bankenrettung durch die öffentliche Hand, noch nicht einmal durch die Verstaatlichung von Wirtschaftsunternehmen, die anderswo viel unbefangener erzwungen worden sind als in Deutschland. Bekanntlich gibt es kapitalistische Länder, in denen sogar die Schlüsselindustrien verstaatlicht sind.

Schutzschirme von Staaten für Banken, das ist ein Bild mit anhaltender Wirkungsmacht. Kein Mensch kann im Ernst behaupten, dass es ein paar schwarze Schafe waren, die ein Debakel dieses Ausmaßes anrichten konnten. Tatsächlich hat sich an den Krisenfolgen gezeigt, dass es keine akkurat von der Finanzwirtschaft abzutrennende Sphäre der Wirtschaft gibt. Die hohe Akzeptanz, die der Wohlstandskapitalismus sich erworben hatte, ist seit Beginn dieses Jahrtausends unaufhörlich gesunken. Die neue Finanzwirtschaft und die in ihrem Gefolge aufgekommenen neuen Attitüden vieler Wirtschaftsakteure haben das alte Unbehagen am Kapitalismus belebt. Nicht an der Marktwirtschaft zweifeln die Menschen. Sehr wohl aber daran, ob die verantwortlichen Wirtschaftsakteure an der sozialen Marktwirtschaft noch in gleichen Maß interessiert sind wie vor zwanzig oder dreißig Jahren.

Und zweifeln sie nicht aus guten, aus nachvollziehbaren Gründen? In den letzten Jahren musste man abends nur auf die Fernbedienung drücken, um auf irgendeinem Kanal das Lied einer öffentlichen Kaste in besten Verhältnissen zu hören, die den Deutschen mangelnde Risikobereitschaft und kleinmütige Feigheit vor den Chancen der globalisierten Märkte vorgehalten haben. Dieser Grundton hat ein Bild von der Wirtschaft geprägt, die von Freiheit redet, aber bloß veränderte Marktbedingungen meint, die normale Leute einer ganz neuen Arbeitskonkurrenz aussetzen, den Unternehmen hingegen neue Mobilität und mit ihr neue Macht geben.

Zu neuen Ufern kommen wir nur, wenn die neuen Entwicklungen nach allen Regeln der demokratischen Kunst einer kritischen Kontroverse unterzogen werden. Es gibt immer Alternativen zur Marktwirtschaft, jedenfalls zur real existierenden. Schlechtere und bessere. Die besseren findet nur, wer sich dann und wann vor Augen hält, dass unser Kapitalismus auch von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst geschaffen hat, von einer Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.

Vortrag beim Jahresempfang des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln
"Auf zu neuen Ufern"

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