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Yanis Varoufakis ist in diesen Tagen ein viel gefragter Mann in Europa. Er hat eigene und präzise Vorstellungen für eine europäische Griechenland-Politik.

© Reuters

Finanzminister Varoufakis: "Griechenland wird nie wieder ein Haushaltsdefizit vorlegen"

Der neue griechische Finanzminister Yanis Varoufakis wünscht sich im Interview, dass Deutschland den Griechen zuhört. Das gilt auch für seinen Ministerkollegen Wolfgang Schäuble (CDU). Den trifft er an diesem Donnerstag, wenn er zu Besuch in Berlin ist.

Herr Varoufakis, Sie haben innerhalb weniger Tage halb Europa gegen sich aufgebracht. War das so geplant?

Ich glaube, das ist normal. Es braucht Zeit, bis überall verstanden worden ist, dass sich in der EU eine sehr grundlegende Veränderung ereignet hat. 

Welche Veränderung?  

Europa war auf die Krise in Griechenland nicht vorbereitet und hat Entscheidungen getroffen, die alles nur noch schlimmer gemacht haben. Jetzt gleicht die EU einem Spielsüchtigen, der dem guten Geld schlechtes hinterherwirft. Wir sind nicht in der Lage zu sagen: Stopp! Haben wir etwas falsch gemacht? Haben wir diese Krise vielleicht falsch verstanden? 

Haben wir das? Die griechische Wirtschaft ist doch in letzter Zeit wieder gewachsen.

Rein statistisch betrachtet vielleicht. Doch in Wirklichkeit fallen die Einkommen und die Preise. Die bisherige Krisenpolitik hat überall in Europa die politischen Kräfte am rechten Rand gestärkt, in Griechenland, in Frankreich, in Italien. Wir brauchen einen Kurswechsel.  

In Deutschland fürchten viele, dass dies eine Ausrede ist, um Reformen zurückzudrehen.  

Die Deutschen müssen verstehen, dass es keine Abkehr vom Reformkurs bedeutet, wenn wir einem Rentner, der von 300 Euro im Monat lebt, zusätzlich 300 Euro im Jahr geben. Wenn wir von Reformen sprechen, dann sollten wir über Kartelle reden, über reiche Griechen, die kaum Steuern bezahlen. Warum kostet ein Kilometer Autobahn bei uns dreimal so viel wie in Deutschland?  

Warum?

Weil wir es mit einem System der Vetternwirtschaft und Korruption zu tun haben. Darum müssen wir uns kümmern. Stattdessen debattierten wir über Öffnungszeiten von Apotheken.  

Viele Regierungen haben versprochen, etwas gegen diese Missstände zu tun. Geschehen ist wenig. Weshalb sollten man Ihnen vertrauen?

Sie sollten uns nicht vertrauen. Aber Sie sollten uns zuhören. Hören Sie sich an, was wir zu sagen haben und lassen Sie uns dann unvoreingenommen darüber diskutieren. 

Sie sind neu im Amt, die meisten Kabinettsmitglieder haben keine Regierungserfahrung. Wie wollen Sie das alles schaffen? 

Wir mögen unerfahren sein, aber wir sind nicht Teil des Systems. Und wir werden uns beraten lassen. Wir haben José Ángel Gurría angesprochen, den Generalsekretär der Industrieländerorganisation OECD. Er soll uns helfen, ein Reformprogramm zusammenzustellen. 

Ihre Regierung hat Tausende von Beamten neu eingestellt. Ist dies das neue Griechenland? 

Wir haben noch überhaupt niemand eingestellt. Wir haben angekündigt, dass wir uns eine Reihe von Entlassungen im öffentlichen Dienst anschauen wollen, die unter fragwürdigen Umständen ausgesprochen wurden. Wenn wir diese Menschen wieder einstellen, dann weil die Begründung für ihre Entlassung nicht überzeugt.  

Die Begründung war: Das Geld fehlt.  

Das überzeugt mich nicht. Ein Beispiel: Unsere Schulen werden ausgeplündert, weil die Sicherheitsleute ihren Job verloren haben. Ist das eine sinnvolle Sparmaßnahme? Wir entlassen die Sicherheitskräfte und in der Nacht können die Computer der Schule geklaut werden.

Lassen sich diese Probleme nicht lösen, ohne den Staatsapparat aufzublähen? 

Wir blähen ihn nicht auf. Wenn wir merken, dass wir zu viele Leute haben, werden wir gegensteuern und etwa frei werdende Stellen nicht mehr besetzen. Als ich noch an der Universität von Athen gearbeitet habe, gab es dort eine Putzfrau mit Namen Anthoula. Wir mussten oft bis Mitternacht arbeiten. Anthoula machte – obwohl sie längst Feierabend hatte – nach uns sauber und schloss uns am nächsten Morgen die Räume auf. Raten Sie, wer im Rahmen des Sparprogramms zuerst entlassen wurde? Anthoula.

Kann sich Politik an solchen Einzelschicksalen orientieren? 

Nein. Aber das Beispiel von Anthoula steht für die Situation in Griechenland. Die Reformen waren ineffizient und ungerecht. Deshalb habe auch ich die Wiedereinstellung der Putzfrauen in meinem Ministerium angeordnet. 

Also von jenen Frauen, die seit Monaten in Athen gegen ihre Entlassung protestieren und zum Symbol der Krise geworden sind? 

Genau. In meinem Ministerium haben die Vertreter der Troika...

...die Inspekteure der EU...  

...die sogenannten Reformen ersonnen. Diese Leute haben nicht etwa hochbezahlte Berater entlassen, sondern Putzfrauen, die nachts die Räume und Toiletten gesäubert haben. Frauen über 50, die mit 500 Euro im Monat nach Hause gegangen sind. Diese Entscheidung ist moralisch verwerflich. Und bevor Sie nachfragen: Das Geld werden wir an anderer Stelle einsparen – indem wir die Verträge der Berater nicht verlängern. 

Syriza hat im Wahlkampf ein milliardenschweres Ausgabenprogramm angekündigt. Das geht ohne neue Schulden? 

Es muss gehen. Ich kann Ihnen versprechen: Griechenland wird – abzüglich der Zinsausgaben – nie wieder ein Haushaltsdefizit vorlegen. Nie, nie, nie! 

Warum mussten Sie dann die EU-Troika aus dem Land werfen? 

Was ist die Troika? Eine Gruppe von Technokraten, die die Umsetzung der Reformprogramme überwachen. Wir sind gewählt worden, weil wir die Logik ihrer Programme nicht mehr hinnehmen. Sie haben unser Land ruiniert. Die Troika hat nicht das Mandat, mit uns über eine andere Politik zu verhandeln. Das bedeutet aber nicht, dass wir mit unseren Partnern nicht mehr zusammenarbeiten. 

Griechenland hat die Auflagen der Geldgeber akzeptiert. Die Haltung in Berlin ist: Abmachungen müssen eingehalten werden. 

Wenn ich so etwas höre, denke ich manchmal, dass Europa aus der Geschichte nichts gelernt hat. Deutschland hat nach dem Ersten Weltkrieg den Vertrag von Versailles unterschrieben. Aber dieser Vertrag war schlecht. Europa wäre viel Leid erspart geblieben, wenn er gebrochen worden wäre. John Maynard Keynes... 

...der berühmte britische Ökonom...

... hat damals schon gewarnt, dass es keine nachhaltige Strategie ist, ein Land in den Ruin zu treiben. Wenn wir glauben, dass die Rettungspolitik ein Fehler war, müssen wir sie ändern. 

War sie ein Fehler? 
Ein riesiger Fehler. Griechenland ist unter seinen Schulden kollabiert. Wie sind wir damit umgegangen? Wir haben einem überschuldeten Staat noch mehr Kredite gegeben. Stellen sie sich vor, einer ihrer Freunde verliert seinen Job und kann seine Hypothek nicht mehr bezahlen. Würden Sie ihm einen weiteren Kredit geben, damit er die Raten für sein Haus abbezahlt? Das kann nicht funktionieren. Ich bin der Finanzminister eines bankrotten Landes! 

Was folgt daraus?  

Wir sollten uns den Problemen mit dem Blick eines Insolvenzverwalters nähern. Und was macht ein Insolvenzverwalter? Er versucht, die Schulden zu reduzieren. 

Die deutsche Bundesregierung hat einen Schuldenschnitt ausgeschlossen.  

Ich verstehe, dass es Begriffe gibt, die in bestimmten Ländern diskreditiert sind. Aber wir können die Schuldenlast auch senken, ohne die Höhe der Schulden selbst anzutasten. Mein Vorschlag: Die Höhe der Zinszahlungen wird an das Wirtschaftswachstum gekoppelt. 

Wenn die griechische Wirtschaft nicht wächst, müssten die Gläubiger also auf Zinsen verzichten. In deutschen Zeitungen wurden sie schon mit der Aussage zitiert: Egal was passiert, Deutschland wird ohnehin zahlen.  

Das Zitat ist aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe nicht gesagt: Die Deutschen zahlen und das ist gut so. Ich habe gesagt, sie haben schon viel zu viel gezahlt. Und sie werden noch mehr zahlen, wenn wir das Schuldenproblem nicht lösen. Nur dann können wir das Geld überhaupt zurückerstatten, das man uns geliehen hat.  

Glauben Sie, dass Sie absichtlich falsch verstanden werden? 

Ich hoffe, es handelt sich nur um ein Missverständnis. 

Alexis Tsipras hat gleich nach der Wahl ein Denkmal für den Widerstand gegen Nazi-Deutschland besucht. Auch das ist als Provokation verstanden worden. Ebenfalls ein Missverständnis? 

Bei uns ist die Partei Goldene Morgenröte zur drittstärksten Kraft im Parlament aufgestiegen. Das sind keine Neonazis, das sind Nazis. Wir müssen sie bekämpfen, immer und überall. An dem Denkmal Rosen niederzulegen, war eine Botschaft an die Nazis in meinem Land. Es war kein Signal in Richtung Deutschlands.

Ist Deutschland Ihrer Meinung nach in Europa zu mächtig geworden?

Deutschland ist das mächtigste Land Europas. Ich glaube, dass die EU davon profitieren würde, wenn Deutschland sich als Hegemon verstünde. Aber ein Hegemon muss Verantwortung übernehmen für andere. Das war der Ansatz der USA nach dem Zweiten Weltkrieg.  

Was könnte Deutschland tun?  

Ich stelle mir einen Merkel-Plan vor, nach dem Vorbild des Marshall-Plans. Deutschland würde seine Kraft nutzen, um Europa zu vereinigen. Das wäre ein wundervolles Vermächtnis der deutschen Bundeskanzlerin.  

Merkel würde sagen, sie habe einen Plan.
Was ist das für ein Plan? Ein Europa, in dem wir noch mehr Kredite bekommen, die wir nie zurückzahlen können? Die USA haben damals Deutschland den größten Teil der Schulden erlassen. Aus dem laufenden EU-Hilfsprogramm liegen jetzt sieben Milliarden Euro auf dem Tisch, die ich mir einfach so nehmen kann. Ich muss nur schnell ein Dokument unterschreiben. Aber ich könnte schlecht schlafen, wenn ich das täte, weil es das Problem nicht lösen würde.  

Dafür haben Sie ein anderes Problem: In wenigen Wochen könnte Ihnen das Geld ausgehen.

Deshalb benötigen wir eine Zwischenfinanzierung. Die Europäische Zentralbank sollte unsere Banken stützen, damit wir uns mithilfe der Ausgabe kurzfristiger Staatsanleihen über Wasser halten können. 

Die EZB würde sich damit am Rande der Legalität bewegen.  

Es wäre aber nicht das erste Mal, dass sie eine solche Aufgabe übernimmt. Und es geht auch nicht um eine Dauerlösung. Anfang Juni haben wir unser Konzept fertig. 

Werden Sie Russland um Hilfe bitten? 

Darauf kann ich eine klare Antwort geben: Das steht nicht zur Debatte. Wir werden niemals in Moskau um Finanzhilfe nachsuchen. 

Dieser Artikel erschien zuerst auf ZEIT Online.

Marcus Gatzke, Mark Schieritz

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