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Schlechte Prognose. Die Folgen der Katastrophe von Fukushima werden wohl noch jahrelang zu spüren sein. Für die Fischer kann es kaum schlimmer werden.

© David McLain /Aurora/laif

Fischerei in Fukushima: Die Letzten werden die Letzten sein

Seit es verboten ist, mit Fisch aus den Gründen vor Fukushima zu handeln, gibt es zu wenig Arbeit für zu viele Fischer. Fast die gesamte regionale Fangflotte liegt vor Anker. Aber auch wer auslaufen darf, sieht darin nur sehr wenig Sinn.

Fünf Uhr morgens an einem Montag in Fukushima, ein kalter Wind bläst vom Meer in den Hafen von Yotsukura. Kapitän Mitsunori Suzuki, 60 Jahre alt, zieht seine Schirmmütze mit dem goldenen Anker in die Stirn und schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Gedankenverloren schaut er über die Dai-San Yin-You, den alten Kutter, auf dem er sein halbes Leben verbracht hat. Seine Finger gleiten über die Reling, nesteln an Knoten, er wirft einen langen Blick auf Sohn Ken, der am Bug die Netze von Algen und Seesternen befreit. Suzuki übernahm das Familienunternehmen von seinem Vater und der wiederum von seinem. Nun sollte Ken es übernehmen. Der Kapitän manövriert seinen Kutter durch ein Bollwerk aus Wellenbrechern und steuert in die Nacht.

Eine Stunde später steigt die Sonne aus dem Meer und Suzuki befiehlt, die Netze auszuwerfen. Der Kutter befindet sich jetzt außerhalb der Sperrzone, die in einem Radius von 20 Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk gezogen wurde. An dieser imaginären Grenze patrouillieren Boote der Küstenwache, um Schiffe aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu weisen. Kapitän Suzuki kneift die Augen zusammen und deutet auf einen Punkt am Horizont. „Der zerstörte Reaktor von Daiichi.“ Angst? „Nein“, sagt Suzuki. „Ich mach’ nur meinen Job.“

Vor zwei Jahren, am 11. März 2011, wurde das Atomkraftwerk von Fukushima von dem Tsunami getroffen. Jeder hier erinnert sich daran, wie die Erde bebte, die haushohe Welle hereinbrach, der Reaktor explodierte und die Heimat in eine Todeszone verwandelte. Etwa 19 000 Menschen starben, begraben unter Trümmern, ertrunken in der Flut. 20 000 vertrieb die Katastrophe allein aus der Präfektur Fukushima. Noch immer leben zehntausende Japaner in den Wohncontainern der Notunterkünfte. Kapitän Suzuki hatte Glück, sein Haus wurde nur leicht beschädigt und es liegt außerhalb der Sperrzone. Er konnte zurückkehren. Sein Schiff hat im Hafen von Yotsukura dreihundert Meter weiter einen neuen Liegeplatz gefunden.

Die halbe Flotte liegt fest. Der Weg zu den Fanggründen, die außerhalb der 20-Kilometer-Sperrzone liegen, ist vielen Fischern zu weit.
Die halbe Flotte liegt fest. Der Weg zu den Fanggründen, die außerhalb der 20-Kilometer-Sperrzone liegen, ist vielen Fischern zu weit.

© laif

Seit April 2011 stechen jede Woche zwölf Fischkutter im Auftrag der Präfektur Fukushima in See, um Fische zu fangen. Sie sollen sie nur aus dem Meer holen, verkauft und gegessen werden dürfen sie nicht. Stattdessen testet ein Labor den Fang an Land auf radioaktive Belastung. Wer auslaufen darf, bestimmt die Fischereigewerkschaft der Stadt Iwaki nach dem Rotationsprinzip. Seit es verboten ist, mit Fisch aus den Gründen vor Fukushima zu handeln, gibt es zu wenig Arbeit für zu viele Fischer. Fast die gesamte regionale Fangflotte liegt deswegen vor Anker.

Aber auch wer auslaufen darf, sieht darin nur sehr wenig Sinn. „Mit Fischerei hat das alles nicht mehr viel zu tun“, sagt Kapitän Suzuki. „Eher mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, um uns bei Laune zu halten. Aber ich bin froh, mal rauszukommen.“

Die Fischgründe vor Fukushima waren einmal berühmt für ihren Reichtum, für ihre Vielfalt an Rotbarsch, Seezunge, Makrele und Oktopoden. Nach der Reaktorkatastrophe hat sich eine Fülle radioaktiver Isotope im Plankton und Meeresboden, in Fischen und Algen abgelagert: Cäsium 134, Cäsium 137, Jod 131. Deswegen bleibt der Fischfang in der Sperrzone verboten. Außerhalb davon ist er gestattet. Aber für die überwiegend kleinen oder mittelgroßen Kutter lohnt sich der weite Weg nicht, ihre Beute ließe sich überdies nicht vermarkten.

"Unser Meer ist tot", sagt der Fischer

Die Fischer, die ihre Boote gerettet haben, können heute kaum Nutzen daraus ziehen. Niemand nimmt ihnen den Fang ab.
Die Fischer, die ihre Boote gerettet haben, können heute kaum Nutzen daraus ziehen. Niemand nimmt ihnen den Fang ab.

© laif

Dabei geht die japanische Regierung mit der Gefahr großzügig um. Während die ukrainischen Behörden nach der Tschernobyl-Katastrophe einen zulässigen Höchstwert von hundert Becquerel pro Kilo Fleisch, Fisch oder Gemüse festlegten, findet man in Japan eine fünffach höhere Belastung zumutbar. Nur die Kunden glauben es nicht: „Niemand kauft mehr unseren Fisch“, sagt Kapitän Suzuki, während die Dai-San Yin-You ihr Schleppnetz durch die flaschengrüne See zieht. „Unser Meer ist tot“, sagt er und seufzt.

Was er damit meint, ist nicht gleich ersichtlich. Die Vier-Mann-Crew zerrt das Netz an Bord. Dem Schlamm folgen braune Seesterne. Als die ersten Fische auf die Planken klatschen, leuchten die Augen des Kapitäns. Ein fetter Fang: Aal, Rochen, Rotbarsch, Seezungen, Makrelen, Oktopoden, sogar drei kleine Dornhaie zappeln an Deck. Inmitten des vibrierenden Haufens liegt ein Fremdkörper, eine braune Damenhandtasche. Ken öffnet sie und kippt den Inhalt aus: ein rosafarbenes Mobiltelefon, ein Schminktäschchen, Haustürschlüssel, eine Brieftasche mit einem Führerschein. Auf dem Passfoto lächelt Shiga Sachiko. Knapp drei Wochen nach dem Tsunami hätte sie ihren 41. Geburtstag gefeiert. Der Führerschein wandert von Hand zu Hand, schweigend betrachtet jeder das Foto und geht wieder an die Arbeit, sortiert den Fang und wirft ihn in blaue Plastikbottiche.

„Hunderttausend Yen liegen da drin“, sagt der Kapitän. Umgerechnet sind das etwa tausend Euro. Er greift sich einen zappelnden Aal. „Sieht doch ganz normal aus. Und zum Schluss müssen wir alles, was nicht ins Labor wandert, wieder ins Meer werfen?“ Er schüttelt den Kopf: „Hunderttausend Yen, einfach so wegwerfen!“

Fisch gibt es vor der Küste von Fukushima reichlich. Aber er wird nur gefangen, um ihn auf radioaktive Verseuchung zu testen.
Fisch gibt es vor der Küste von Fukushima reichlich. Aber er wird nur gefangen, um ihn auf radioaktive Verseuchung zu testen.

© dpa

Doch es hätte den Fischer noch schlimmer treffen können. Als ihn am 11. März 2011 die Warnung vor dem Tsunami erreichte, saß er beim Essen zu Hause. Er sah durchs Fenster, dass seine Nachbarn landeinwärts in die Hügel bei Yotsokura flohen. Da befahl er seiner Frau Kyoko und dem Sohn, ebenfalls dorthin zu rennen. Er selbst sprang in seinen Toyota und fuhr in die entgegengesetzte Richtung, besessen von nur einem Gedanken: das Schiff!

Die Welle erfasste ihn kurz hinter seinem Haus. Eisiges Wasser strudelte in den Wagen, der in rasendem Tempo dem Meer entgegen gerissen und gegen Treibgut geschleudert wurde. Er zwängte sich durch das Schiebedach und sah, wie die Welle drei Fischer vom Pier fegte und in die offene See sog. Eine Frage der Zeit, bis auch ihn das Meer schlucken würde, doch er hatte Glück: Sein Auto blieb an irgendetwas hängen, die Flut zerrte und warf es noch eine Weile hin und her, aber es hielt stand, bis sich das Wasser langsam zurückzog.

Es dauerte zwei Tage, bis er sein Schiff Dai-San Yin-You in Schräglage vor der Küste dümpelnd wiederfand. Ohne Aufbauten und Takelage. Zwei Monate brauchte der Kapitän, um seinen Kutter wieder flott zu machen.

In der Zwischenzeit schmolz der Kern des Reaktors. Die radioaktive Wolke zwang ihn und seine Familie in ein Evakuierungslager. Dort lebten sie drei Monate und fragten sich jeden Tag, wie es weitergehen sollte. Dann zog es ihn zurück, er wollte wieder fischen, eine Aufgabe haben. „Ich habe mein Leben und mein Boot gerettet, aber jetzt ging es darum, auch ein bisschen Zukunft zu retten.“

Im Landesinneren, 30 Kilometer von der Küste entfernt, sitzt Takeshi Seiichi in einem verglasten Labor des Landwirtschaftlichen Technologiezentrums von Fukushima und ist bestürzt. Er weiß, dass er Existenzen vernichtet. Seit er hier Nahrungsmittel auf radioaktive Strahlung prüft, ist er berühmt geworden – und einsam. Nicht ein einziges unbelastetes Lebensmittel ist ihm in den drei Massenspektografen des Labors untergekommen, mit denen die Isotope gemessen werden. Es mache ihn traurig, sagt er, dass sein Urteil das Dasein vieler Menschen zerstört. „Die Leute haben doch schon genug gelitten.“

Eine Seezunge mit 4000 Becquerel

Frauen sortieren den Fang auf dem Hirakata Fischmarkt von Kitaibaraki, südlich des havarierten Atomkraftwerks Fukushima.
Frauen sortieren den Fang auf dem Hirakata Fischmarkt von Kitaibaraki, südlich des havarierten Atomkraftwerks Fukushima.

© AFP

Takeshi Seiichi kramt ein Blatt Papier aus einer Schublade. „Hier, tausendfünfzig Becquerel in einer Reisprobe, zehntausend Becquerel in Pilzen, achthundertfünfzig in einer Makrele.“ Monoton betet er die Werte auf der Liste herunter. Dann steht er mit hängenden Armen im Raum. Ein Nachlassverwalter der Katastrophe, einem unsichtbaren Phantom auf der Spur. Jede Woche veröffentlicht er die Testergebnisse, von denen die Zukunft der Bauern und Fischer Fukushimas abhängt. „Das Meer ist krank. Es wird lange dauern, bis es wieder gesund wird“, sagt er.

Seine Testergebnisse faxt Takeshi Seiichi an Kazunori Yoshida, 60, und Masa Yabuki, 75, in Iwaki, vierzig Kilometer von Fukushima entfernt. Die beiden Männer versuchen, die schlechten Nachrichten mit einer Tasse Tee erträglicher zu machen. Sie haben sich in den fensterlosen, kahlen Raum zurückgezogen, der ihr Büro ist. Hier können sie ungestört reden, während zwei Dutzend Fischer die Tür belagern, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Yoshida und Yabuki sind die Vorsitzenden der Fischereigewerkschaft von Iwaki, und vor ihnen liegt nun das Fax, das ihnen ihre Sekretärin gerade mit einer leichten Verbeugung übergeben hat. Yoshida hat sein Gesicht in den Handflächen vergraben, Yabuki kaut an den Fingernägeln.

Minutenlang sagt niemand ein Wort.

„Wir sind vom Himmel in die Hölle abgestiegen“, stöhnt Yoshida. Er starrt auf das Fax, sein Mundwinkel zuckt. Mit einem gelben Filzmarker streicht er Zahlen und Daten an: Aburame 1780 Becquerel pro Kilo, Heilbutt 490, Rochen 1160, Steinflunder, Rotbarsch 950. Vergangene Woche war eine Seezunge dabei, in der viertausend Becquerel gemessen wurde – das achtfache des Grenzwerts.

Immerhin, viele Proben liegen unter dem amtlichen Höchstwert. Ein kleiner Fortschritt. Allerdings kein Grund zur Entwarnung. Denn selbst in Thunfischen vor der Küste Kaliforniens fanden Forscher radioaktive Substanzen aus dem Akw Fukushima. „Fische wandern“, sagt Yoshida. „Die mit niedrigen Messwerten könnten aus sicheren Gewässern stammen.“

Den beiden bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie sich die Lage in den kommenden Monaten entwickelt. „Vielleicht können wir ja schon im nächsten Jahr wieder fischen“, sagt Yoshida mit einer Stimme, die mehr Wunsch als Zuversicht ausdrückt.

Den Wissenschaftlern geben die Folgen des Fukushima-Desasters noch immer Rätsel auf. Löst sich die Radioaktivität in der Weite des Ozeans auf? Oder verteilt sie sich ungleichmäßig? Lagert sie sich im Sediment ab? Wird sie durch die Nahrungskette gereicht und in jedem einzelnen Organismus gespeichert? Eine aktuelle Studie des amerikanischen Woods Hole Ozeanografischen Instituts wiegelt ab: Die hohe Radioaktivität berge nicht unbedingt eine große Gefahr. Zwar seien nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Daiichi bis zu tausendfach höhere Cäsiumwerte gemessen worden, dennoch lägen die Risiken unterhalb dessen, was für Mensch und Meer schädlich sein könnte, weil sich die radioaktiven Stoffe im Meer über ein großes Gebiet verteilt hätten. Verzehr von Fisch sei daher vermutlich relativ ungefährlich.

Die Umweltorganisation Greenpeace sieht das anders. Es sei noch viel zu früh, Langzeitprognosen zu stellen. Wie im Fall von Tschernobyl werde es wohl Jahre dauern, bis man verlässliche Aussagen über die Folgen für Mensch und Umwelt machen könne. Nur eines könne man mit Sicherheit sagen, dass die Folgen der Katastrophe noch Jahrzehnte andauern werden. Die Halbwertzeit von Cäsium 137 beträgt dreißig Jahre.

„Unsere Gewerkschaft hat 448 Mitglieder und 387 Boote“, sagt Yoshida. „Davon wurden 242 durch den Tsunami beschädigt, 182 so schwer, dass sie nicht mehr zu reparieren waren.“ Die beiden alten Gewerkschafter füllen das Büro mit leisen Sätzen, sie ahnen, dass der Beruf des Fischers in Fukushima mit ihnen ausstirbt. Der Nachwuchs wandert ab. In der Präfektur gibt es viele junge Menschen und nur wenige Arbeitsplätze. „Das Jahrhunderte alte Band zwischen Mensch und Natur ist gerissen.“ Was nun? Yoshida kratzt sich am Kinn.

Als Kapitän Suzuki seine Dai-San Yin-You wieder in den Hafen von Yotsokura manövriert, wartet dort schon ein Kombi auf die Fischproben, die Takeshi Seiichi, der Wissenschaftler, wie jede Woche in seinem Labor untersuchen wird. Die größeren Fische, Dornhaie und Rochen, gehen sofort über Bord.

Derweil fährt Kapitän Suzuki zur nächsten Polizeistation, um die Damenhandtasche abzuliefern. Als er zurückkommt, erzählt er, dass Shiga Sachiko, die Besitzerin der Handtasche, am 26. März 2011 für tot erklärt wurde. Seine Männer schweigen und blicken betreten auf ihre Schuhspitzen.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Carsten Stormer

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