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Politik: Fischers Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten beunruhigt die Langsamen (Kommentar)

Avantgarde ist etwas Wunderbares. Zur Avantgarde will sich jeder zählen - mal abgesehen von den üblichen Verdächtigen, denen die ganze Richtung nicht passt.

Avantgarde ist etwas Wunderbares. Zur Avantgarde will sich jeder zählen - mal abgesehen von den üblichen Verdächtigen, denen die ganze Richtung nicht passt. Das ist vorhersehbar und wird deshalb auch weniger ernst genommen. Viel gefährlicher sind die heimlichen Gegner der Avantgarde: Jene, die gerne dazu gehören würden, sich aber ausgeschlossen fühlen.

Als Joschka Fischer am Freitag seine Vision der künftigen Europäischen Union präsentierte, ließ er eine Frage unbeantwortet: Welche Länder die von ihm gewünschte Avantgarde bilden sollen auf dem Weg zu den Föderierten Staaten von Europa. Das war kein Zufall. Hätte Fischer bereits Staaten genannt, könnte er sich das Werben für seine Idee bei den übrigen sparen. Die wären automatisch beleidigt gewesen, dass er ihnen diese Rolle nicht zutraut.

Mit seinem Schweigen hat Fischer die Partner aber nicht vom eigenständigen Nachdenken abgehalten. Sie alle haben inzwischen überlegt, wo Fischer ihre Länder wohl in seiner ideellen Europa-Karte einordnet - und wo sie sich selbst sie gerne sähen. In der Avantgarde? Oder in der übrigen EU, die sich zunächst um den Kern der Staaten mit gemeinsamer Regierung, Zwei-Kammer-Parlament und einem Staatsoberhaupt gruppiert? Oder in einer noch weiter vom Kern entfernten Gruppe?

Entsprechend unterschiedlich fielen die Reaktionen aus. Jedoch, kein Partner rief: Hurra, da wollen wir mitmachen. Nirgends ist Enthusiasmus zu spüren. Das muss nicht nur Fischer nachdenklich machen. So wenig also trauen die EU-Staaten sich selber zu. Die Ablehnung aus Großbritannien war zu erwarten. London dürfte zwar mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben, dass auch der grüne Außenminister den Fortbestand der Nationalstaaten akzeptiert, ja dass er sich sich sogar zum Vaterland bekennt. Aber ein Europa mit gemeinsamer Regierung wollen die Briten nicht akzeptieren.

Frankreich reagierte höflich-entgegenkommend. Dort denkt man sich wohl: ein interessantes Gedankenspiel, auch viel Richtiges. Doch wäre der Plan dringlich gewesen, hätten Paris und Berlin ihn gemeinsam vorstellen müssen. Die Benelux-Staaten sind traditionell für Kerneuropa, wollen aber konkrete Garantien haben, dass sie von den großen Partnern nicht untergebuttert werden. Die fehlten bei Fischer. Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, auch die Finnen fürchten, nicht zur Avantgarde zu gehören. Österreich und Schweden wissen nicht, ob sie überhaupt Avantgarde sein wollen, empfänden es aber als Zurücksetzung, wenn andere diese Rolle spielten.

Und: Nicht überhören darf man die Skepsis aus Polen - stellvertretend für alle Beitrittskandidaten. Gute Europäer wollen sie sein. Aber nun dehnt sich die Zeit im Wartezimmer schon so lange - von 1989 an gerechnet werden wohl über 15 Jahre vergangen sein, ehe sie EU-Mitglieder sind. Und kaum lässt sich der Zeitpunkt absehen, zu dem sie im gemeinsamen Wohnzimmer Platz nehmen, wird bereits ein neuer VIP-Raum abgegrenzt - für eine Avantgarde, der sie als Nachzügler wohl kaum angehören.

Um bessere Resonanz zu erreichen, hätte Fischer eine Avantgarde zeichnen müssen, bei der alle vorne sind - und niemand.

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