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Flucht eines iranischen Bloggers: Über ein Leben im Transit

2000 Regimekritiker aus dem Iran flohen nach den Demonstrationen vor einem Jahr in die Türkei. Dort sitzen sie nun fest und warten, dass ein Land sie aufnimmt. Deutschland will 50 Verfolgten Zuflucht gewähren – als "Zeichen der Solidarität".

Es war die größte Demonstration, die Amir Moghimi in seinem Leben gesehen hat. Hunderttausende schoben sich im Juni vergangenen Jahres durch die Straßen von Teheran. Die meisten waren sehr jung, auch viele Frauen waren dabei. Es war der dritte Tag nach der umstrittenen Wiederwahl des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Täglich wagten sich mehr Menschen auf die Straßen. Schrien ihre Wut über die Wahlfälschungen hinaus und forderten Neuwahlen.

Doch für viele ging es um mehr als das: Endlich schien Bewegung in das erstarrte System zu kommen. Endlich würden sich die Fesseln an ihren Händen und Füßen, vor allem die Knebel lockern, die ihnen verboten, offen zu sprechen.

„Es war eine ganz besondere Zeit für mich und meine ganze Generation. Etwas Großes passierte, und wir waren ein Teil davon“, erzählt Amir Moghimi, und seine Augen glänzen, wenn er an jene Tage denkt. „Wir dachten, dass wir gemeinsam alles verändern könnten.“ Mit seiner kleinen Kamera schoss er Fotos von Demonstranten und Sicherheitskräften.

Die Lebensader der jungen Iraner wie Amir Moghimi war das Internet, schon vor der Wahl, umso mehr danach. Der IT-Ingenieur verbrachte die Nächte vor dem Bildschirm. In Blogs, über Skype und mit Mails hielt er Freunde in der ganzen Welt über die Geschehnisse auf dem Laufenden. Alle sollten teilhaben an der Bewegung. „Ich wollte alles festhalten, das beste Foto meines Lebens machen.“

Sich zu vermummen, daran verschwendeten die jungen Protestler in jenen Tagen keinen Gedanken. Sie zeigten arglos Gesicht. Nach der Demonstration trennte er sich von seinen Freunden, euphorisch, und eilte zurück in seine Wohnung, um die Bilder hochzuladen. Dazu sollte er nicht mehr kommen.

Wegen Fotos, die die Welt nie zu sehen bekam, sitzt er heute in einer abgedunkelten Wohnung. Die Gardine ist einen Spalt breit geöffnet und lässt den Blick frei auf einen rosablühenden Busch vor dem Fenster. Amir Moghimi, schmächtig, mit Brille und Kinnbart, hockt auf einem braunen Sofa. Der 30-Jährige trägt ein kariertes Hemd, in die Jeans gesteckt. Über seinem Kopf hängt ein gerahmtes Gemälde von Kemal Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik.

Seit drei Monaten versteckt sich Moghimi in einer Parterrewohnung inmitten einer türkischen Großstadt, mit der dunklen Schrankwand, der Porzellantassensammlung und den abgebrannten Kerzen des Vermieters. Die Zeiger der Wanduhr aus Eichenholz zeigen auf halb sechs. Sie ist stehengeblieben.

Amir Moghimi sieht keinen Grund, die Zeit wieder in Gang zu setzen. Er ist einer von über 2000 iranischen Regimekritikern, die nach der umstrittenen Präsidentenwahl außer Landes und in die benachbarte Türkei geflohen sind. Ohne Einkommen, ohne finanzielle Unterstützung und medizinische Behandlung warten sie nun darauf, dass irgendein Land der Welt sie aufnimmt. Das Bundesinnenministerium hat Anfang März angekündigt, etwa 50 Verfolgte als „Zeichen der Solidarität“ aufzunehmen. Vergangene Woche ist der erste, ein Journalist, mit seiner Familie in Hamburg angekommen.

Die anderen hoffen, dass auch für sie die Zeit wieder zu ticken beginnt. Dabei hatten sich nach der Demonstration für Amir Moghimi die Ereignisse in Teheran überschlagen. Auf dem Heimweg stoppte ein Kleinbus neben ihm, und zwei Männer fragten, warum er fotografiert habe. Sie rissen ihm die Kamera aus den Händen, verbanden seine Augen und stießen ihn in den Bus, wo schon andere Gefangene kauerten. Die Augenbinde nahmen sie ihm auch in der Nacht nicht ab, bis heute weiß er nicht, wo er gewesen ist. Am nächsten Tag wurden die Gefangenen nach Evin gebracht, in das berüchtigte Gefängnis des iranischen Geheimdienstes. Er kam in Einzelhaft, nur unterbrochen von Verhören. Eine Woche saß er fest, es kam ihm unendlich lang vor. „Sie glaubten mir nicht, dass ich kein Journalist bin und die Fotos nur für mich geschossen habe. Bei jeder Antwort schlugen sie mir ins Gesicht.“ Dann ließen sie ihn frei. Ein Onkel hatte als Kaution seine volle Monatsrente, 600 Dollar, hinterlegt.

Amir Moghimi übernachtete bei Freunden, doch bereits am nächsten Tag erfuhr er, dass der Geheimdienst seine Wohnung durchsucht und seinen Computer und stapelweise Unterlagen mitgenommen habe. Ausreichend Beweise für das Bloggen, die Kontakte ins Ausland, seine regimekritische Einstellung. „Da war klar, dass sie mich wieder einsperren würden. Ich musste fliehen.“ Weil er fürchtete, bereits gesucht zu werden, wagte er nicht, das Land auf offiziellem Wege zu verlassen. Freunde taten einen Fluchthelfer auf, der ihn nach Ankara bringen sollte.

Amir Moghimi fuhr mit dem Bus in ein Dorf an der türkischen Grenze. Für 4000 Dollar gab er sein Schicksal in die Hände des Unbekannten. Er gehörte nun zu einer kleinen Gruppe von Afghanen und Usbeken, als einziger Iraner. In der Finsternis schlichen sie durch den Wald zur Grenze. Auf ein Zeichen des Fluchthelfers hin liefen sie los. Doch ein Grenzsoldat entdeckte die Rennenden, schoss auf sie.

Zur Umkehr gezwungen, versuchte er es wieder. Erst nach einer Woche, beim dritten Anlauf, dieses Mal allein, schaffte er es. „Ich hatte noch nie solch eine Angst. Ich bin nicht religiös. Aber als ich losrannte, bat ich Gott, mir zu helfen“, erzählt er.

In der Türkei war er in Sicherheit. Alles war gut. Glaubte er zumindest. Eine Woche später stand Amir Moghimi mit seinem kleinen Rucksack am Busbahnhof von Ankara. Auf der Toilette rasierte er sich und zog ein frisches Hemd über. Doch begann nun, was in der Türkei allen bevorsteht, denen das Geld für die Weiterreise ausgeht. Denn die Fluchtroute von der Türkei nach Deutschland oder Österreich kostet weitere 7000 Dollar.

Da er in der Türkei kein Asyl beantragen kann – das Land gewährt von jeher nur Europäern Flüchtlingsstatus – machte er sich auf den Weg zum Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), der sich um alle Nichteuropäer kümmert. Dort wurde er nur registriert, einen Termin für das Interview sollte er später erhalten. Weil Amir Moghimi die türkische Grenze illegal überschritten hatte, wurde er in eine Satellitenstadt im Osten des Landes zurückgeschickt, nach Agri, an der iranischen Grenze. Dort sollte er sich bei der türkischen Polizei melden.

Agri ist eine Garnisonsstadt im Krieg des türkischen Militärs gegen kurdische PKK-Milizen. Hunderte iranische Flüchtlinge leben hier und warten. Auf die Bearbeitung ihrer Anträge, auf ihre Ausreise. Das Anerkennungsverfahren dauert meist zwei Jahre, die Ausreise kann sich in schwierigen Fällen bis zu zehn Jahre hinziehen. Jobs sind in dieser ländlichen Gegend rar, finanzielle Unterstützung erhalten die Flüchtlinge nicht. Miete und Lebensmittel zahlen sie von dem Geld, das Verwandte schicken. „Meine Schwester hat mir Geld, einen Koffer mit Kleidungsstücken und meinen Laptop geschickt“, erzählt Amir Moghimi, glücklich, dass er wieder Kontakt aufnehmen kann mit der Welt. „Internet ist für uns fast so wichtig wie Essen. Es ist unsere Verbindung zu unseren Freunden und Helfern.“

Mit anderen Exiliranern, die er hier kennenlernte, mietete Amir Moghimi für 400 Dollar eine Wohnung. Wie alle Flüchtlinge in Agri mussten sie sich jeden Tag bei der türkischen Polizei melden. Tage, Wochen zogen dahin. Er hatte Geburtstag. Er machte Fotos. Sie sind auf dem Laptop gespeichert. Sie zeigen fröstelnde Männer in verschneiten Straßen. Auf einem Bild treibt ein Schäfer seine Herde über die Hauptstraße. Amir Moghimi, der sein Leben in der Stadt verbracht hat, schüttelt den Kopf.

Ein anderes Foto zeigt die Freunde bei einem der seltenen Teehausbesuche. Wie auf einem Urlaubsschnappschuss heben sie lächelnd ihr Glas Chai, den türkischen schwarzen Tee Richtung Kamera. Aber es ist kein Urlaub, sondern ein böser Traum, aus dem sie bald erwachen.

Die Schreckensnachricht war in einer Mail verborgen: Ein Freund aus Teheran schrieb Amir Moghimi, dass er unter Folter dem Geheimdienst verraten habe, wo dieser sich aufhalte und wie seine Telefonnummer laute. Damit begann es. „Ich erhielt immer häufiger Anrufe, in denen sich jemand nach mir erkundigte und dann auflegte“, sagt er. Dann wurden seine Eltern unter Druck gesetzt, sie sollten ihren Sohn in den Iran zurückholen. Amir Moghimi hatte Angst. Um sich, seine Freunde, seine Eltern. In Agri fühlte er sich nicht mehr sicher. Er wechselte die Telefonnummer.

„Hier waren so viele iranische Flüchtlinge, jeder kannte jeden, und man wusste nicht, wem man vertrauen kann.“ Eines Nachts verließ er Agri. Ohne Erlaubnis.

Seitdem sitzt Amir Moghimi in jener dunklen Wohnung in einer türkischen Großstadt, deren Name nicht genannt werden darf, und wartet. „Hier sind keine anderen Flüchtlinge, das ist gut für mich“, sagt Amir Moghimi. Die dunklen Haare mit den ersten grauen Strähnen kräuseln sich auf den Schultern. Das Haus verlässt er nur zum Einkaufen, die meiste Zeit ist er in der virtuellen Welt unterwegs, unterhält sich dort mit seinen Freunden.

Gestern war er wieder beim UNHCR. Als Flüchtling ist er nun anerkannt. Man werde ein Aufnahmeland suchen, wurde ihm mitgeteilt. Vielleicht Deutschland, von dessen guten Universitäten er gehört hat. Doch der Mitarbeiter sagte auch, dass er nach Agri zurückkehren müsse. Sonst würde er bei seiner Ausreise Probleme mit den türkischen Behörden bekommen. Schließlich haben sie in Agri eine Rechnung mit ihm offen: Noch müssen Ausländer, die in der Türkei leben, eine halbjährliche „Aufenthaltsgebühr“ von umgerechnet 220 Euro zahlen.

Michaela Ludwig[Ankara]

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