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Politik: Flucht in den Krieg

Zehntausende Tschetschenen haben sich in die Nachbarrepublik Inguschetien gerettet – doch der Kampf holt sie ein

Den Alptraum des Krieges wollten sie hinter sich lassen. Rund 600 Flüchtlinge aus Tschetschenien leben am Rande der Stadt Nasran in der russischen Teilrepublik Inguschetien. Am 3. Juni kam der Krieg zu ihnen: Um vier Uhr morgens umstellten Panzerwagen der russischen Sicherheitskräfte die kleine Siedlung, wie das russische Menschenrechtszentrum Memorial und Human Rights Watch berichten. Bewaffnete in Tarnuniformen begannen eine „Säuberung“: Sie drangen in die Unterkünfte ein und zwangen alle Männer, sich draußen auf der Straße hinzuknien. Vier von ihnen, darunter der Leiter des Flüchtlingslagers, wurden festgenommen. Die „anti-terroristische Operation“, wie der Tschetschenien-Krieg in Moskau in offizieller Diktion heißt, hat sich so in diesem Sommer auf die Nachbarrepublik Inguschetien ausgeweitet.

Dem steht die offizielle Rhetorik entgegen: Der Kreml betont, dass die umkämpfte Kaukasusrepublik auf dem Weg in die Normalität sei. Moskau hat den Druck auf die Flüchtlinge in Inguschetien massiv verstärkt: Da sich die Lage in ihrer Heimat „normalisiert“ habe, sollten sie zurückkehren, heißt es. In den Flüchtlingslagern glauben viele, dass es einen Zusammenhang zwischen dieser Aufforderung und den sich häufenden Übergriffen gibt. Während einer „Säuberung“ in einem Flüchtlingslager, so berichtet Memorial, riefen die maskierten Bewaffneten: „Ihr wollt nicht zurück nach Hause? Habt ihr gedacht, wir würden euch hier nicht kriegen?“

64 000 Flüchtlinge aus Tschetschenien leben nach offiziellen Angaben in der Nachbarrepublik. Kaum einer von ihnen will zurück. Inguschetiens Präsident Murat Sjasikow sagt, die Versorgung einer so großen Zahl von Menschen sei nicht zu bewältigen. Hilfsorganisationen berichten jedoch, dass die inguschetische Regierung den Bau von Unterkünften für Flüchtlinge gezielt blockiert. Dabei lebt jeder Zweite in Zelten, die entweder undicht sind oder keinen Boden haben. „Ärzte ohne Grenzen“ hat mit finanzieller Hilfe der EU 180 Hütten errichtet. Jetzt müssten sie wieder abgerissen werden, berichtet Geschäftsführerin Ulrike von Pilar.

In Tschetschenien selbst kann von einer „Normalisierung“ keine Rede sein. Einem tschetschenischen Arzt zufolge, der für „Ärzte ohne Grenzen“ arbeitet, ist die Angst in der Bevölkerung noch nie so groß gewesen. In ungewöhnlich scharfen Worten weisen die Helfer auch die Behauptung Moskaus zurück, wonach sich die Lage gebessert habe und humanitäre Hilfe nicht mehr nötig sei: „Diese Darstellung ist falsch“, sagt Ulrike von Pilar. Der Krieg geht weiter, die Leidtragenden sind Zivilisten. Humanitäre Hilfe erreicht die Menschen kaum noch. „Auch in Kongo, in Liberia oder Burundi ist die Sicherheitslage schwierig“, betont von Pilar. „Aber Tschetschenien ist das einzige Land, in dem kein einziger internationaler Mitarbeiter einer humanitären Organisation permanent arbeitet.“ Damit ist die Kaukasusrepublik faktisch von der Außenwelt abgeschnitten.

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