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Papst Franziskus.

© picture alliance / dpa

Flüchtlinge: Der Papst redet Europa ins Gewissen

Europa braucht mehr, nicht weniger Solidarität. Dass es eines Außenstehenden wie des Papstes bedarf, dies zu fordern, spricht nicht für diesen Kontinent. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Vielleicht musste da wirklich jemand von außen kommen, ein Nicht-Europäer und ein Nicht-Politiker dazu, um all denen ins Gewissen zu reden, die in der Europäischen Union Verantwortung tragen. Ob aber der Papst im sehr katholischen Polen, in der ziemlich katholischen Slowakei und den weniger religiösen Ländern Tschechien und Ungarn wirklich gehört wird? Manches verbale Bekenntnis zur Mitmenschlichkeit zerschellt in diesen Tagen gerade dort am staatlich praktizierten Egoismus. Franziskus rief Europa zu: „Was ist mir dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?“

Nichts ist mehr los mit diesem Europa, mag man ihm antworten. Besitzstandswahrung ist das Leitmotiv des Regierungshandelns in vielen EU-Staaten, so, als ließen sich mit Zäunen und Mauern die Probleme der Welt fernhalten. Erst schaffte es der wohlhabendste Kontinent der Erde nicht, 116.000 in Italien und Griechenland festsitzende Flüchtlinge auf 28 Länder zu verteilen. Dann lehnten es jene, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollten, soeben auch noch ab, wenigstens einen finanziellen Ausgleich dafür zu leisten, dass sie die Fürsorge für diese Menschen anderen zuweisen. Und als sei das noch nicht genug, wird nun der Pakt mit der Türkei in moralisierender Tonalität angeprangert, als hätten sich die potentiellen demokratischen Partner bei der Lösung der Flüchtlingsproblematik in langer Reihe aufgestellt.

Europa der Heuchler

Nein, dieses Europa ist ein Europa der Heuchler geworden. Erst versteckten sich die Länder der Mitte, des Nordens und des Ostens hinter der so genannten Dublinregelung, die die Verantwortung für die Flüchtlinge jenen Staaten gibt, in denen die Schutzbedürftigen erstmals europäischen Boden betreten. Für Griechenland und Italien wurde das zu einem wahrhaft teuflischen Übereinkommen, denn fast alle Zuflucht Suchenden strandeten an ihren Küsten, hätten registriert und versorgt werden müssen. Auch Deutschland war da fein raus. Als aber die Regierungen in Rom und Athen nicht mehr aus noch ein wussten, und die Menschen einfach weiter schickten, die ihnen freiwillig niemand abnahm, war das Geschrei groß, gerade auch in Deutschland.

Das alles geschah freilich, bevor die große Völkerwanderung aus Syrien einsetzte und die Bilder von tausenden verzweifelten Menschen auf Bahnhofsvorplätzen und Autobahnen Ungarns um die Welt gingen. Ja, Angela Merkel hätte im September das Vorübergehende der Grenzöffnung klar stellen, hätte eine europäische Regelung sofort fordern müssen. Und Deutschland ist in einer Sondersituation, weil dieses überalterte Land auf Zuwanderung dringend angewiesen ist. Aber das ist keine neue Erkenntnis. Wenn die Politik das hätte ändern wollen, hätte sie schon vor Jahren ein Einwanderungsgesetz verabschieden müssen. Wer die Flüchtlinge nun, fernab von allen humanitären Überlegungen, quasi als Lösung des demografischen Problems umdeutet, begibt sich schon wieder auf einen deutschen Sonderweg. Völlig zu Recht sagen nun andere EU-Staaten mit deutlich höheren Geburtenraten, dann löse du, Deutschland, bitte das Flüchtlingsproblem auch alleine.

Aber Deutschland hat das Problem ja nicht geschaffen. Die EU bräuchte auch keine Papstappelle, endlich zu tun, was sie längst als richtig erkannt hat: dass sie gemeinsam die politische und ökonomische Situation im Mittleren Osten und Afrika stabilisieren muss, dass dies viel Geld kostet. Dass sie schlagkräftig gegen die Schlepper vorzugehen hat. Dass man dafür nicht weniger, sondern viel mehr europäische Kompetenz und Solidarität braucht. Und dass dies auch gerade dann gilt, sollte ein Despot Erdogan Europa zur Preisgabe unserer menschenrechtlichen Grundsätze zwingen wollen. Die Umsetzung der Weg-von-Europa-Devisen, die jetzt nicht nur aus Osteuropa tönen, wären kein probates Heilmittel, sondern ein schleichend, aber letal wirkendes Gift für unseren Kontinent.

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