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EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos.

© Reuters

Flüchtlinge: EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos: Flüchtlingskrise ist "Crashtest" für Europa

EU-Migrationskommissar Avramopoulos erklärt im Interview mit dem Tagesspiegel, dass er sich von Ungarn mehr Kooperation bei der Registrierung von Flüchtlingen erhofft.

Die EU-Kommission strebt die Umverteilung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen aus Ungarn, Griechenland und Italien an. Werden die Mitgliedstaaten der EU dabei mitmachen?

Unter den gegenwärtigen Umständen müssen die EU-Mitglieder dies tun. Im Mai hat die Kommission bereits vorgeschlagen, 40.000 Flüchtlinge zu verteilen. Jetzt sollen noch einmal 120 000 Flüchtlinge hinzukommen. Dieser Plan ist ehrgeizig. Als wir im Mai unseren ersten Vorstoß zur Umverteilung machten, gab es unter einigen Mitgliedstaaten Vorbehalte. Das hat sich inzwischen geändert. Ich glaube, sie haben inzwischen erkannt, dass wir alle gemeinsam auf eine humanitäre Krise reagieren müssen. Dies ist ein "Crashtest" für Europa.

Aber gerade Ungarn kann mit einer Quotenregelung zur Verteilung der Flüchtlinge offenbar wenig anfangen, obwohl die übrigen EU-Staaten dem Land per Quote 54.000 Flüchtlinge abnehmen würden.

Kurzfristig verfolgen wir das Ziel, den Druck auf die von den steigenden Flüchtlingszahlen betroffenen Länder Ungarn, Griechenland und Italien zu verringern. Deshalb ist das neue System nicht nur im Interesse der gesamten Union, sondern insbesondere im Interesse Ungarns. Ungarn sollte diese Gelegenheit ergreifen.

Die EU-Kommission hat Ungarn angeboten, das Land bei der Einrichtung eines Aufnahmezentrums für Flüchtlinge zu unterstützen. Kooperiert Ungarn bei diesem Vorhaben?

Ich habe mit dem ungarischen Innenminister darüber gesprochen. In der kommenden Woche werde ich in Ungarn sein, und bei dieser Gelegenheit wird es hoffentlich eine Anfrage aus Budapest zur Unterstützung beim Aufbau eines Aufnahmezentrums geben. Bislang hat es noch keine entsprechende Anfrage an uns gegeben. Aber wir stehen bereit, um Ungarn bei dieser großen Herausforderung zu unterstützen – und zwar ganz gezielt, nach den Wünschen der ungarischen Behörden.

Aber die Flüchtlinge müssen in jedem Fall auf ungarischen Gebiet registriert werden? Es ist ja auch die Rede davon, dass die Registrierung in einer Transitzone im serbisch-ungarischen Grenzgebiet vorgenommen werden könnte.

Die Aufnahme muss in Ungarn stattfinden, also auf dem Boden der Europäischen Union. Das heißt: Die Registrierung, die Abnahme von Fingerabdrücken und die Bewertung eines jeden Einzelfalles muss innerhalb eines EU-Landes geschehen. Serbien ist kein EU-Mitglied. Dennoch arbeitet die Kommission schon jetzt mit Belgrad zusammen, um das dortige Asylsystem zu verbessern. Dabei geht es auch um die Bekämpfung von Schleppern.

Bei den Osteuropäern und den Balten gibt es ganz grundsätzliche Einwände gegen eine Quotenregelung. In diesen Ländern wird eine Lösung mit einem verbindlichen Schlüssel zur Verteilung der Flüchtlinge als Einmischung seitens der Europäischen Union empfunden.

Alle Länder, die zur europäischen Familie gehören, müssen sich auch an die Politik der EU halten. Natürlich können wir niemanden zu einer solchen Neuregelung zwingen. Aber auf der anderen Seite müssen alle EU-Staaten einsehen, dass die Flüchtlingskrise ihre Kapazitäten übersteigt. Aber leider gibt es auch Populisten in der EU, die in erster Linie mit dem Finger auf andere zeigen, anstatt Solidarität zu zeigen.

Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann hat gefordert, dass europäische Fördergelder bei den Mitgliedstaaten gekürzt werden, die bei einer Quotenregelung nicht mitmachen. Was halten Sie davon?

Es geht nicht darum, die Peitsche zu schwingen, sondern eher um die Verteilung von Zuckerbrot. Anders gesagt: Es gibt keinen Grund, EU-Hilfen zu kürzen. Wir wollen Mitgliedstaaten unterstützen und nicht bestrafen. Wir pflegen in der Flüchtlingskrise einen vertrauensvollen Dialog mit den Mitgliedstaaten und wir hoffen, dass wir am Ende auch alle überzeugen werden. Am Montag findet ein Sondertreffen der EU-Innenminister zu dem Thema statt, das eine entscheidende Bedeutung hat.

Was erwarten Sie von diesem Ministertreffen? Wird es am Ende eine Mehrheitsentscheidung geben, bei der einige Mitglieder diejenigen Staaten überstimmen, die sich gegen eine Quotenregelung sperren?

Das müssen wir abwarten. Ich werde am Montag alles unternehmen, um auch die Skeptiker zu überzeugen. Unser Plan ist zwar einerseits ehrgeizig, aber keineswegs realitätsfremd. Ich habe aus den Behörden aller EU-Mitgliedstaaten deutliche Appelle im Sinne einer gesamteuropäischen Lösung gehört. Jetzt kommt es zur Nagelprobe. Es liegt an den Mitgliedstaaten, Entschlossenheit zu zeigen – und sich nicht von Angst leiten zu lassen.

Unter den sicheren Herkunftsstaaten, welche die EU-Kommission in einer Liste zusammenfassen will, befinden sich nicht nur die Staaten des westlichen Balkans, sondern auch die Türkei. Kritiker wenden ein, dass die Türkei keineswegs sicher sei, weil dort gerade wieder bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten.

Die Türkei wird auf der Grundlage ihrer rechtlichen Situation als sicheres Herkunftsland eingestuft. Die Türkei wurde seinerzeit von der EU der Status eines Beitrittskandidaten verliehen, weil es die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllte, also beispielsweise eine funktionierende Demokratie, rechtsstaatliche Verfahren und der Schutz der Minderheiten. Auf der rechtlichen Basis gelten Länder mit EU-Kandidatenstatus daher als sicher. Das Verfahren bei der geplanten EU-Liste sicherer Herkunftsländer sieht allerdings auch vor, dass Staaten vorübergehend wieder von der Liste gestrichen werden können, wenn die Bedingungen nicht eingehalten werden. Schließlich werden die Fortschritte der einzelnen Länder mit einer EU-Beitrittsperspektive auch jedes Jahr aufs Neue von der EU-Kommission dokumentiert. Um es klar zu sagen: Wenn ein Staat als sicheres Herkunftsland eingestuft wird, so schließt das nicht aus, dass Menschen aus diesen Ländern einen individuellen Asylantrag stellen können. Die Neuregelung ist einfach nur zur Beschleunigung der Asylverfahren gedacht.

Wie lange wird die Flüchtlingskrise noch andauern?

Sie wird noch so lange andauern, wie unsere Nachbarschaft in Flammen steht. Weil sich die Lage in Syrien und Libyen noch verschlechtern dürfte, erwarte ich, dass wir es sowohl auf kurze als auch auf mittlere Sicht noch mit diesen hohen Flüchtlingszahlen zu tun haben werden.

An deutschen Bahnhöfen sind Flüchtlinge herzlich begrüßt worden. Hat dies etwas am Deutschland-Bild in Griechenland geändert?

Als griechischer Bürger kann ich Ihnen sagen, dass die Entscheidung Deutschlands, die politisch verfolgten Flüchtlinge aufzunehmen, ein starkes Zeichen praktizierter Solidarität bedeutet. Diese mutige Entscheidung kann man nur loben. Deutschland hat anderen Ländern dabei den richtigen Weg gewiesen. Gleichzeitig hat Deutschland auch deutlich gemacht, welchen Platz das Land in der europäischen Familie einnimmt – es war eine Entscheidung im Sinne Europas.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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