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Von der Elfenbeinküste nach Palermo: Geflüchtete mit Kind und Helferinnen auf Sizilien, Mitte Juni

© imago

Flüchtlinge: Europa will sein Asylsystem reformieren - nur wie?

Die EU überarbeitet ihre Regelungen zur Aufnahme von Flüchtlingen grundlegend - nach vier Jahren. Wer wie viele übernimmt, bleibt die Schlüsselfrage.

Ein „Gemeinsames europäisches Asylsystem“ hatten sich die EU-Länder schon 1999 verordnet. Immerhin 14 Jahre später war es so weit. Doch was Brüssel seinerzeit, im März 2013, als großen Wurf präsentierte, ist längst wieder reparaturbedürftig. Spätestens in der Fluchtkrise 2015 erwies sich das Regelwerk des GEAS, so ein hoher Brüsseler Beamter der Migrationsdirektion, als „Potemkinsches Dorf, das schon dem ersten Sturm nicht standhielt“.

Seit letztem Jahr arbeiten EU-Kommission und Parlament nun an einer Generalüberholung. Die Vorschläge der Kommission, die das Initiativrecht in der europäischen Gesetzgebung hat, liegen seit dem Frühjahr 2016 vor. Doch ob ein Qualitätssprung gelingt, scheint fraglich, denn wie bisher verhindern nationale Egoismen - im Rat, in dem die nationalen Regierungen sich treffen - die Lösung der Schlüsselfrage, die lautet: Wie lassen sich Flüchtlinge fair verteilen?

Die Reform entwickle sich "zu einer größeren Schlacht" zwischen EU-Parlament und Rat, schrieb Ende Juni Ska Keller, Migrationsfachfrau und Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, in einem Briefing über den aktuellen Stand. "Während das Parlament als Co-Gesetzgeberin ein viel stärker an Solidarität orientiertes Asylsystem fordern, schafft der Rat es nicht, sich auf eine gerechtere Teilung der Verantwortung unter den Mitgliedstaaten zu einigen und manövriert das Dublin-System in eine Sackgasse." Es gehe "sowohl um internationale wie um Solidarität innerhalb der Europäischen Union".

Für die Flüchtlingshilfsorganisation "Pro Asyl" bedeuten die Brüsseler Vorschläge eine "harmonisierte Asylrechtsverschärfung" - zumal die Kommission nach den schlechten Erfahrungen mit der Reform von 2013 jetzt statt auf Richtlinien auf Verordnungen setzt - die gelten direkt in allen Mitgliedsländern und müssen nicht mehr erst ins jeweilige nationale Recht umgesetzt werden.

Staaten sollen weniger Spielraum bekommen

Während sich im Parlament aktuell eine Mehrheit dafür abzeichnet, das Dublin-System radikal zu reformieren und Flüchtlinge auf sämtliche EU-Mitgliedstaaten zu verteilen, egal wo sie angekommen sind, setzt die EU-Kommission im Gegenteil darauf, die seit langem umstrittene Dublin-Vorschrift noch zu verschärfen, nach der der Staat zuständig für ein Asylverfahren ist, in dem der oder die Geflüchtete erstmals europäischen Boden betreten hat. Nur wenn sehr viele Flüchtlinge kommen und das Asylsystem eines Erstankunftsstaats mehr als 150 Prozent dessen bearbeiten müsste, was seinem Aufnahme-Anteil entspräche, sollen andere Länder einspringen.

Und selbst die Staaten, die von sich aus Asyl gewähren wollen, könnten dies in Zukunft nicht mehr: Die Kommissionsvorschlag will das so genannte "Selbsteintrittsrecht" begrenzen, nach dem der Staat, in dem ein Flüchtling sich tatsächlich aufhält, ihn in einem Asylverfahren anhört - und nicht der Staat der ersten Ankunft, der laut Dublin zuständig ist. Das sind meist Italien und Griechenland. Davon wären auch Kinder und Jugendliche betroffen, die ohne Familie geflüchtet sind, die sogenannten unbegleiteten Minderjährigen. Die Schutzsuchenden selbst sollen, wenn sie nicht im zuständigen Staat geblieben sind, am neuen Aufenthaltsort von allen materiellen Leistungen ausgeschlossen sein - schulpflichtige Kinder sogar vom regulären Schulunterricht.

Parlament will Wünsche der Flüchtlinge einbeziehen

Das Parlament bezieht dagegen die Wünsche der Geflüchteten ein, die im Kommissionsvorschlag gar keine Rolle spielen. Wer in einem bestimmten EU-Land früher schon einmal wohnte, dort Verwandte hat oder andere Menschen, die ihn unterstützen, soll dorthin dürfen. Wer die Landessprache spricht oder andere wichtige Verbindungen in einen bestimmten Staat hat, dürfte ebenfalls kommen, vorausgesetzt, die Behörden des gewünschten Landes erlauben dies.

Alle anderen dürfen sich ein Aufnahmeland unter den vier EU-Ländern wählen, die ihre Aufnahmepflichten am schlechtesten erfüllt haben. Sie sollen auch in Gruppen bis zu 20 Personen in ein Land kommen können. Migrationsexperten empfehlen immer wieder, die Wünsche und sozialen Bindungen Geflüchteter einzubeziehen, weil das ihre Integration beschleunigt und auch die Verwaltungen der EU-Staaten entlastet.

Der Kommissionsvorschlag sieht auch vor, dass Staaten sich von ihrer Aufnahmepflicht freikaufen können – mit 250.000 Euro pro Kopf. Das Parlament ist für einen ganz anderen Weg: Wer sich weigert, seinen Anteil von Asylbewerbern zu übernehmen, soll kein oder weniger Geld aus Brüsseler Töpfen bekommen. Wer allerdings seine Pflicht schleifen lässt, die eigenen Grenzen zu sichern, bekommt niemanden abgenommen. Und Staaten, die noch wenig Erfahrung mit Asyl haben, sollen eine Übergangsfrist erhalten.

Verhandlungen womöglich ab Herbst

Ein weiterer harter Konflikt zwischen nationalen Regierungen und dem EU-Parlament zeichnet sich bereits in der Frage ab, wer überhaupt Chancen auf ein europäisches Asylverfahren hat. Die Kommission will, nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals, alle von Europa fernhalten, die bereits durch Länder geflohen sind, die Europa für sicher hält. Alle Asylanträge sollen künftig außerdem auf ihre "Zulässigkeit" geprüft werden. Unzulässig wären die von Menschen, die zwischenzeitlich in einem angeblich sicheren Drittstaat waren, aus einem Land stammen, das nach EU-Definition sicher ist oder die als gefährlich angesehen werden. Sie hätten nicht einmal die Chance, ihre Gründe vorzutragen - und würden in Drittstaaten zurückgeschickt, die sie womöglich ihrerseits wieder ins Herkunftsland weiterschieben, wo sie in Gefahr wären.

Die Grüne Ska Keller ist sich sicher, dass das Parlament sich über Fraktionsgrenzen hinaus bald auf eine Linie einigen wird. Das habe sich bei informellen Treffen der Berichterstatter schon abgezeichnet. Völlig unklar, sagte sie dem Tagesspiegel, sei, was der Rat, die Gemeinschaft der nationalen Regierungen, beschließen werde, der wie das Parlament über das reformierte "Gemeinsame europäische Asylsystem" entscheiden muss. "Der Rat kann sich derzeit auf nichts einigen", sagte Keller dem Tagesspiegel. "Grund ist eben die Frage, wie Flüchtlinge künftig verteilt werden." Die Frage also, die Europa jetzt schon seit Jahren umtreibt.

Im Herbst könnten die Verhandlungen zwischen den Hauptstädten und dem Europäischen Parlament beginnen. Dabei wird sich zeigen, ob die EU diesmal die Antwort auf ihre Gretchenfrage findet.

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