zum Hauptinhalt
Afrikanische Flüchtlinge bei der Ankunft auf der sizilianischen Insel Lampedusa. 24 von ihnen gab ein europäisches Gericht jetzt Recht.

© dpa

Flüchtlinge: Europas neue Mauern

Der Menschenrechtsgerichtshof hat den Umgang der EU mit Flüchtlingen kritisiert – doch Brüssel schweigt bisher dazu.

Vor einer Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Flüchtlingsabwehr der EU spektakulär abgewatscht. In einem Urteil gab das Gericht einer Gruppe von 24 Afrikanern recht, die 2009 von italienischen Schiffen im Mittelmeer außerhalb der Hoheitszone gestoppt und nach Libyen zurückgezwungen worden waren. Die Straßburger Richter stellten fest, dass das EU-Mitglied Italien auch außerhalb der eigenen Grenzen die Menschenrechte beachten müsse. Man habe nicht geprüft, ob die Afrikaner ein Recht auf Asyl hatten, und sie stattdessen wissentlich der Gefahr von Folter und anderer unmenschlicher Behandlung durch Libyen ausgesetzt. Zum ersten Mal entschied Straßburg auch, dass Europa nicht nur innerhalb der eigenen Hoheitsgewässer zum Grundrechtsschutz verpflichtet sei: Die 24 Kläger seien schließlich auch auf hoher See ganz und gar in den Händen italienischer Behörden gewesen.

Das Urteil ist aber auch ein Schlag gegen die jahrelange EU-Praxis, den Schutz der eigenen Grenzen weit vorzuverlegen. Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen riefen ebenso wie einige Europa-Abgeordnete zu grundlegenden Änderungen am EU-Grenzregime auf. Doch Europas Institutionen hüllen sich in Schweigen. Zwar versprach der Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström auf Nachfrage, man werde das Urteil „mit großem Interesse lesen und analysieren“. Es sei „wichtig“ und habe „Bedeutung fürs internationale wie das europäische Recht“. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex, deren Arbeit das Urteil massiv infrage stellt, überging es zunächst wortlos und rühmte sich am selben Tag stattdessen eines neuen „Arbeitsabkommens“ mit Armenien. Abkommen mit Drittstaaten sind seit Jahren ein wichtiges Mittel der EU-Flüchtlingsabwehr – so auch im Falle Libyen-Italien. Dem Tagesspiegel sagte ein Frontex-Sprecher, vonseiten der Agentur gebe es da „nichts Besonderes zu kommentieren“. Das Urteil habe noch klarer gefasst, was für die EU-Grenzpolitik ohnehin gelte. An menschenrechtswidrigen Operationen auf dem Meer sei die Agentur „nach unserem besten Wissen“ nie beteiligt gewesen.

Der Flüchtlingsaktivist Gabriele del Grande von der italienischen NGO „Fortress Europe“, die seit Jahren die Todesopfer der Flucht übers Mittelmeer dokumentiert, ist denn auch skeptisch, ob das Straßburger Urteil die für viele Flüchtlinge tödliche Abschottungspolitik Europas praktisch verändern wird. Es sei „ein überaus starkes Signal“, sagte er dem Tagesspiegel. Doch: „Allein in Italien haben sieben Jahre lang Regierungen jeder politischen Richtung Rücknahmeabkommen mit Libyen verhandelt.“ Er glaube deshalb auch nicht an die Versprechungen der neuen Regierung von Mario Monti, die Änderungen in Aussicht gestellt habe. Der Fall „Hirsi Jamaa und andere gegen Italien“ war überhaupt nur deshalb in Straßburg gelandet, weil ein Fotojournalist die Ereignisse im Mai 2009 dokumentieren und römische Anwälte die Spur einiger Flüchtlinge aufnehmen konnten.

Nora Markard ist weniger pessimistisch. „Es gibt Möglichkeiten, Druck auszuüben“, sagt die Völkerrechtlerin von der Universität Bremen. Schließlich machten viele Flüchtlinge mehr als einen der gefährlichen Versuche, nach Europa zu kommen. Wer es schafft, erhält wegen erwiesener Verfolgung sehr oft – in etwa fünfzig Prozent der Fälle – Asyl oder anderen Schutz. „Spätestens hier können Nichtregierungsorganisationen die Betroffenen erreichen, es gibt dann Klagemöglichkeiten.“ In Zukunft müssten sich Juristen allerdings „neuen Herausforderungen“ stellen, sagt Markard, die den Prozess in Straßburg von Anfang an beobachtet hat. Der Versuch, Menschenrechtsverletzungen, die westliche Länder selbst nicht begehen dürften, an Dritte zu delegieren – wie der Export von Terrorverdächtigen in nahöstliche Folterlager – sei schließlich „unbedingt ein Trend“ der letzten Jahre. Dabei entsteht gleichzeitig Druck auf Drittstaaten, ihrerseits fundamentale Menschenrechte außer Kraft zu setzen, um ihre Wirtschaftsbeziehungen zur reichen Nachbarin Europa nicht zu gefährden. „Das Recht auf Asyl bedeutet, dass man es suchen dürfen, dass man jeden, auch den eigenen Staat verlassen können muss“, sagt Markard. „Das ist ein Menschenrecht. Marokko zum Beispiel verhindert das Europa zuliebe an seinen Küsten. Das ist ein bisschen so, als würde Europa die Berliner Mauer am Mittelmeer wiederaufbauen – nur aus der anderen Richtung.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false