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Seit Mitte 2011 bewohnt er mit seiner Familie das Klassenzimmer einer Schule.

© Katharina Eglau

Flüchtlinge im Jemen: Kein Vertrauen in den Frieden

Als Al Qaida die Provinzen Abijan und Shabwa eroberte, suchten 200.000 Menschen in der Hafenstadt Aden Zuflucht. Dort leben die Flüchtlinge heute unter schweren Bedingungen - und ohne viel Hoffnung auf Rückkehr in ihre Heimat. Denn die Gefahr durch die Gotteskrieger ist längst nicht gebannt.

Der 11-jährige Ahmed vertreibt sich die Zeit mit Würfeln. „Spiel der Sicherheit“ heißt der Karton mit der gestreiften Schlange, die die Unesco an die Flüchtlingskinder verteilt. „Achtung Landminen“ steht am Rand, „seid nicht so dumm wie die Ziegen“ und „keine leeren Kanister anfassen“. Wer auf die gefährlichen roten Felder tappt, muss schleunigst drei Schritte zurück. Auf der Rückseite des Kartons ist das ganze Teufelszeug des Krieges aufgemalt – kugelig, länglich, tellerförmig, spitz oder mit kleinen Propellern. „Nichts wie raus, solange es noch Autos gibt“, habe er sich damals gesagt, als die Schüsse immer näher kamen, berichtet Ahmeds Vater Mohammed Obeid. Seit Mitte 2011 lebt er mit seiner Familie in einem Klassenzimmer in der Hafenstadt Aden. Auf dem Schulhof meckern ein paar Ziegen in einem Bretterverschlag. Fast alle Fensterscheiben sind zerbrochen und mit Pappen gestopft. Drinnen lümmelte sich ein Junge vor einem alten, speckigen Fernseher und fuchtelt mit einer Spielzeugpistole herum. Auf dem Boden liegen Matratzen, an der Wand eine klappriger Herd und etwas Gemüse.

Alle hier in der Abdu-Ghanim-Jungenschule, die in britischer Kolonialzeit erbaut wurde, stammen aus Adens Nachbarprovinzen Abijan und Shabwa, die im Sommer 2011 während der Revolutionswirren von Al Qaida erobert wurden. Mehr als ein Jahr spielten sich die Gotteskrieger in den Städten und Dörfern als die neuen Herrscher auf, erklärten beide Regionen zu autonomen Islamischen Emiraten. 200.000 Menschen suchten damals Zuflucht in der Hafenmetropole Aden, 80 der 150 städtischen Schulen nahmen sie als Notunterkünfte in Beschlag. Mehr als ein Jahr lang fiel ein Großteil des Schulunterrichts aus – die Leidtragenden der Wirren waren vor allem die Kinder.

Seit Jahresanfang hat die jemenitische Armee nach monatelangen heftigen Kämpfen erstmals wieder die Oberhand – zu einem hohen Preis. Die Provinzhauptstadt Zinjibar wurde wochenlang von See durch Kriegsschiffe beschossen und aus der Luft bombardiert. Rund die Hälfte der Vertriebenen haben sich inzwischen in ihre zerstörte Heimat zurückgetraut, darunter auch die Verwandten von Mohammed Obeid. Zinjibar sei eine Trümmerwüste, berichten sie. Die meisten Felder und Geschäfte sind zerstört, Wohnhäuser tückisch vermint, Sprengsätze in den Sesseln versteckt, hinter Türen, im Garten oder auf den Beeten. Jeden Tag werden Rückkehrer von Minen verletzt, darunter viele Kinder wie Ahmed. „Die sind bald alle wieder hier zurück in Aden“, sagt der langjährige Offizier, der seit fünf Jahren pensioniert ist. „Ich traue dem Frieden nicht, ich bin sicher, das Ganze fängt bald wieder von vorne an.“

Seit einem Jahr verfolgt Jemen im Kampf gegen Al Qaida erstmals eine Strategie der bedingungslosen Härte. Anders als Vorgänger Ali Abdullah Saleh, setzt Präsident Abdu Rabu Mansour Hadi voll auf das Militär. Offiziere wurden reihenweise ausgetauscht, Einheiten im Süden verstärkt. Verhandelt wird nur in absoluten Ausnahmefällen, die US-Armee hat mit ihren Drohnen freie Hand im ganzen Land. Und so lag im letzten Jahr die Zahl der Drohnenangriffe mit 42 erstmals gleichauf mit Pakistan – mit der gleichen ambivalenten Bilanz. Einmal, wie im Dezember, tötete eine Rakete die Nummer zwei der Terroristen. Dann wieder starben, wie kürzlich in Radaa, 17 Menschen einer Hochzeitsgesellschaft, was viele aufgebrachte Bewohner in die Hände der Radikalen treibt.

Und so sind die Gotteskämpfer trotz hoher Verluste alles andere als besiegt. „Die Bedrohung ist eher größer geworden, weil Al Qaida sich jetzt in viele Provinzen zerstreut hat“, erläutert Mohammed Saif Haidar vom Sheba Zentrum für Strategische Studien, der zu den besten Al Qaida Kennern des Jemen gehört. Nach dem Verlust von Zinjibar haben die Terrorstrategen ihren Schwerpunkt von Süden nach Norden verlagert. Immer mehr Stämme wechseln die Seiten. Islamisten aller Schattierungen verbünden sich im Kampf gegen Armee und US-Drohnen. Inzwischen haben sich die radikalen Kommandos in Al Bayda und Radaa festgesetzt, sind bis auf 150 Kilometer an die jemenitische Hauptstadt herangerückt – näher als jemals zuvor. In Sanaa habe die Zahl der Anschläge „beängstigende Umfänge angenommen“, bestätigt auch ein westlicher Diplomat. Eine jemenitische Zeitschrift listete kürzlich alle Attentate der letzten Monate auf, eine seitenlange Chronik des Horrors. So kamen im Mai 2012 während einer Parade der „Zentralen Sicherheitskräfte“ über 100 Anti-Terror-Elitesoldaten durch einen Selbstmordanschlag ums Leben. Mehr als 40 hohe Polizeioffiziere wurden seitdem durch Attentäter auf Motorrädern ermordet. „Der heutige Kampf ist viel großflächiger als vor einem Jahr, auch wenn die Armee mit allen Mitteln versucht, die Gefahr zu stoppen“, urteilt Al-Qaida-Experte Mohammed Saif Haidar.

Adens Gouverneur Waheed Ali Rasheed weiß nur zu gut, was das bedeutet. Von seinem Büro im sechsten Stock hat er freien Blick über die Stadt und den Hafen, in dem dieser Tage lediglich zwei einsame Schiffe aus Nordkorea und Russland vor Anker liegen. „Vor einigen Monaten stand Al Qaida noch wenige Kilometer vor der Stadtgrenze“, sagt er. An jeder Ecke seien Bewaffnete zu sehen gewesen, die der Bevölkerung Angst und Schrecken einjagten. Sein Vorgänger im Amt musste fliehen. „Wir konnten der Lage einfach nicht mehr Herr werden.“ Zwar ist die Gefahr für Aden seit dem Sieg der Armee in Abijan etwas abgeflaut. Aber nach den Gotteskriegern machen sich jetzt Verbrecherbanden, Drogendealer, Menschenhändler und Waffenschieber breit. Vize-Gouverneur Sultan Al Shaibi trägt eine Pistole offen im Hosengurt, einen amerikanischen Colt 45. „Al Qaida ist nach wie vor in der Stadt, es gibt jede Menge Schläferzellen“, sagt er und beklagt im gleichen Atemzug, dass die jemenitischen Sicherheitskräfte einfach nicht stark genug seien, „diesen Leuten richtig entgegenzutreten“. Täglich wechselt der Ex-Offizier seine Fahrtrouten zur Arbeit, die Waffe stets griffbereit. „Heutzutage gibt es keine Sicherheit“, sagt er. „Wer mich ermorden will, kommt irgendwann zum Ziel.“

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