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Ein geflüchteter Vater und seine drei Töchter an Bord der "Aquarius" vor einem Jahr.

© Gabriel Bouys/AFP

Flüchtlinge im Mittelmeer: Gutachten: EU darf Seenotretter nicht bremsen

Die Europäische Union will Flüchtlingshelfern einen Verhaltenskodex auferlegen. Wissenschaftler des Bundestags halten das für kaum durchsetzbar.

Die EU wird Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlinge im Mittelmeer aufnehmen, wohl nicht auf einen Verhaltenskodex verpflichten können. Sowohl der EU-Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs wie auch der Innen- und Justizministerrat der EU-Mitgliedsstaaten habe keine Kompetenz, "den (italienischen) Verhaltenskodex für NRO rechtswirksam zu verabschieden", heißt es in einem Gutachten des Wissenschaftliche Dienstes des Bundestags, das dem Tagesspiegel vorliegt.

Das Gutachten ist bereits das zweite, nachdem sich die Rechtsexperten des Diensts zuvor damit beschäftigt hatten, ob Italiens neues Vorgehen gegen NGOs rechtmäßig ist. Die Brüsseler Kommission gab Anfang Juli in einer Presseerklärung zu erkennen, dass er für die gesamte EU verbindlich gemacht werden soll. Der Kodex kam auch auf Druck der übrigen EU und unter Mitwirkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zustande. Frontex wirft den NGOs seit Jahren vor, sie dienten dem Geschäft der Schlepper, inzwischen tun dies auch Mitglieder europäischer Regierungen, etwa Bundesinnenminister Thomas de Maizière.

Übergabe von Flüchtlingen an größere Schiffe verboten

Unterschrieben haben die neuen Verhaltensregeln bisher vier der neun Organisationen, mit denen das italienische Innenministerium verhandelte. Etliche beteiligten sich von vornherein nicht an den Gesprächen "Ärzte ohne Grenzen" lehnte ebenso ab wie die Brandenburger Gruppe "Jugend rettet". Gegen "Jugend rettet" wird nun auf Sizilien wegen "Förderung illegaler Migration" ermittelt - was die Helfer von "Sea Eye" kurze Zeit später dazu brachte, ihrerseits zu unterschreiben.

Neben etlichen Vorschriften, die die NGOs selbst als unproblematisch ansehen - Offenlegung ihrer Finanzierung, Zusammenarbeit mit der Rettungskoordination in Rom oder Sicherheitskräften an Land - ist es vor allem das Verbot, aufgenommene Flüchtlinge an größere Schiffe weiterzugeben, das die Aktivisten nicht akzeptieren wollen. Ihre meist kleinen Schiffe sind lediglich für eine erste Versorgung tauglich und würden zudem Zeit für weitere Einsätze verlieren, wenn sie immer selbst den nächsten Hafen anlaufen müssten. Das Übergabeverbot könnte de facto also das Aus für ihre Einsätze bedeuten.

"Ärzte ohne Grenzen" erklärte, dass sie bewaffnete Polizei nicht an Bord nehmen könnten. Das würde einen Präzedenzfall schaffen, der es auch bei anderen Einsätzen in aller Welt unmöglich machen würde, ihre Lazarette und Camps von Bewaffneten freizuhalten.

Bundestagsjuristen: EU-Räte ohne Kompetenz

Nun wird aber ohnehin immer fraglicher, ob die Pläne Italiens und Brüssels, die Helferschiffe an die Leine zu nehmen, juristisch wasserfest sind. Schon das erste Gutachten des Wissenschaftlichen Diensts im Bundestag hatte letzte Woche festgestellt, dass Seenotrettung "tief verankert in der Jahrhunderte alten, maritimen Tradition" und "gemeinhin als ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht" anzusehen sei. Dieses Recht gelte auch für "Seefahrer, die aufbrechen, um gezielt nach Schiffbrüchigen zu suchen (wie im Falle der privaten Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer)". Die EU oder einzelne ihrer Mitglieder dürften nichts unternehmen, um Rettungsaktionen zu blockieren oder ins Leere laufen zu lassen.

Die neue Ausarbeitung der Bundestagsfachleute bestreitet nun auch die Zuständigkeit der EU, die Verhaltensrichtlinien Italiens verbindlich und EU-weit gültig zu machen. Das dürfe weder der Rat - in diesem Fall der Innen- und Justizminister -, denn er brauche dazu das Straßburger Parlament: "Allein kann der Rat ... keine Maßnahmen mir (sic!) Rechtswirkung erlassen". Aber auch die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat seien hier nicht kompetent, sie fassten "grundsätzlich politische und keine rechtlichen Entschlüsse". Die könnten zwar im einzelnen Rechtswirkung haben; das gelte aber nicht im Asyl- und Einwanderungsrecht. Auch das Frontex-Mandat gebe der Agentur kein Recht, die NGOs zu etwas zu zwingen. Der Juristische Dienst in Brüssel kam nach Tagesspiegel-Informationen kürzlich zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Kolleginnen und Kollegen im Bundestag.

"Verhaltenskodex lieber für Libyens Küstenwache"

Fraglich bleibt auch, ob Italiens Innenministers Marco Minniti seine Drohung wahrmachen kann oder will, wer den Kodex nicht unterschreibe, dürfe nicht mehr in italienische Häfen einlaufen. Was am Sonntag wie eine erste Probe aufs Exempel schien - das Schiff "Prudence" von "Ärzte ohne Grenzen" blieb außerhalb des Hafens von Lampedusa - erwies sich als technisch bedingt: Die 127 Migranten wurden von Booten der Küstenwache an Land gebracht, ein üblicher Vorgang, wie ein Sprecher von "Ärzte ohne Grenzen" sagte. Die "Prudence" sei schlicht nicht gut in den Hafen von Lampedusa zu manövrieren. Auch die Juristinnen und Juristen des Bundestags hatten in ihrem ersten Gutachten Zweifel geäußert, "wie eine Rechtsbindung anderweitig erzeugt werden sollte", wenn sich die privaten Seenotrettungsorganisationen weigerten zu unterschreiben.

Der Linken-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko, der beide Bundestags-Ausarbeitungen in Auftrag gegeben hatte, warf der EU-Kommission vor, für sie spiele offenbar Legalität keine Rolle, wenn es darum gehe, Migranten abzuwehren. Der Versuch, NGOs mit Hilfe des Kodex zu gängeln, sei juristisch aber "bedeutungslos". "Noch gilt das unverbrüchliche Völkerrecht. Italien kann die Einfahrt eines Schiffes in seine Häfen nicht untersagen." Wenn Geflüchtete auf den Rettungsschiffen nicht medizinisch versorgt werden können, greife etwa das Nothafenrecht. "Wenn es einen „Verhaltenskodex“ braucht", so Hunko zum Tagesspiegel, "dann für die schießwütige libysche Küstenwache".

Zwei Minister sind zuständig - aber unterschiedlicher Meinung

Was politisch aus dem Kodex wird, ist seit Dienstag unklarer denn je. Inzwischen streitet die Regierung in Rom offen darüber. In einem Interview in der römischen Tageszeitung Repubblica legte sich Verkehrsminister Graziano Delrio vom mitte-linken Partito democratico mit seinem Parteifreund Marco Minniti an, dem Innenminister: Er habe nichts gegen dessen Kodex, aber internationales Recht und die Verfassung Italiens seien wichtiger: "Wenn ein NGO-Schiff in der Nähe von Hilfebedürftigen ist, kann ich das nicht ignorieren. Auch wenn es die Verpflichtung nicht unterschrieben hat, muss ich es nutzen, um Menschenleben zu retten." Delrios Ministerium untersteht unter anderem die italienische Küstenwache.

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