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In erbärmlichen Verhältnissen müssen viele Syrer im Libanon leben.

© Mohamed Azakir/Reuters

Flüchtlinge im Nahen Osten: Wenn Europa zum Traum wird

Die Situation in Syrien wird immer dramatischer. Doch auch in Aufnahmeländern wie Jordanien und dem Libanon verschlechtert sich die Lage der Flüchtlinge.

Manchmal sprechen Worte Bände. Flüchtlinge, Vertriebene, Asylsuchende? Diese Worte kommen vielen Türken kaum über die Lippen. Sie nennen die kriegsgeplagten Syrer, die bei ihnen Unterschlupf finden, einfach Gäste. Menschen, die Not und Elend entkommen sind, werden an der Grenze von Einheimischen und Helfern im wörtlichen Sinne mit offenen Armen empfangen. Und das seit Jahren, hunderttausendfach.

Fast zwei Millionen Frauen, Kinder und Männer leben bereits in zumeist gut organisierten Lagern oder – das ist die Mehrheit – in nahe gelegenen Städten und Dörfern. Und täglich werden es mehr. Die Türkei ächzt zwar unter der Last, fühlt sich vom Westen alleingelassen. Dennoch gibt es selten Murren, Anfeindungen oder gar Übergriffe. Dafür viel Hilfsbereitschaft und Empathie. Den Syrern zu helfen gilt als Selbstverständlichkeit, ja als Pflicht.

Vielleicht ist diese besondere Art der Gastfreundschaft ein Grund dafür, dass die syrischen Flüchtlinge bislang offenbar kaum Anstalten machen, Richtung Europa zu ziehen. „Die Menschen fühlen sich verhältnismäßig gut versorgt, vor allem in den Camps“, sagt Nesrin Semen vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP). Dennoch versuchen laut türkischen Medien mehr und mehr Flüchtlinge, über die Balkanroute in die EU zu gelangen. Der Landweg erscheine ihnen weniger gefährlich als die Fahrt übers Mittelmeer. Und sie hofften, motiviert durch die jüngsten Berichte, vor allem in Deutschland unkompliziert Asyl zu finden.

Die Ersparnisse sind aufgebraucht

Denn auch in der Türkei haben die Syrer mit enormen Problemen zu kämpfen. Ihre Kinder können oft nicht zur Schule gehen. Einen legalen Job zu finden ist extrem schwierig. Für Wohnungen müssen oft horrende Mieten gezahlt werden. Und Hilfsorganisationen wie WFP haben wegen fehlender Spenden ihre Unterstützung drastisch eingeschränkt. „Doch irgendwie schaffen es die Menschen, über die Runden zu kommen“, sagt Semen. Das kostet allerdings Kraft. Und Geld. Die Ersparnisse vieler Familien sind aufgebracht. Nur wenige könnten es sich daher leisten, einen Schlepper zu bezahlen. „Eine Massenbewegung gen Europa sehe ich nicht.“ Vielmehr träumten die Syrer immer noch davon, möglichst bald in ihre alte Heimat zurückzukehren.

Das bekommt auch Rene Schulthoff oft zu hören, der sich von Beirut aus um die Syrien-Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes kümmert. „Auf die Frage, was wollt ihr am liebsten, antworten die Menschen fast einmütig: nach Syrien zurück. Eine Folge der Enttäuschungen. Anfangs dachten die Vertriebenen, sie könnten nach einigen Monaten in die Heimat zurückkehren. Jetzt leben sie schon Jahre in den Nachbarstaaten, unter zum Teil sehr schwierigen Bedingungen. „Ich kann aber nicht erkennen, dass die Leute wegen der schlechten Lage massenhaft nach Europa ziehen wollen“, sagt Schulthoff.

Den Menschen fehlt das Nötigste

Massenhaft? So würde das auch Volker Schimmel wohl nicht formulieren. Aber der Experte vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hält die Lage gerade in Jordanien sehr wohl für besorgniserregend. „Die Menschen hier haben keine Perspektive mehr, sie sind verzweifelt“, sagt der Leiter des UNHCR-Unterbüros im Amman. Die Zahl der Syrer, die in Armut leben, sei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. „Heute fehlt vielen Familien das Nötigste zum Überleben. Sie sehen deshalb in Europa die einzige Chance, ihrem Elend zu entkommen.“ Eine aktuelle Umfrage des UNHCR belege, dass immer mehr Menschen fest entschlossen seien, Jordanien zu verlassen. Dass sie damit womöglich ihr Leben riskieren, schreckt die Syrer nach Schimmels Erfahrung nicht ab. „Die Verzweiflung über die Ausweglosigkeit ihrer Lage ist zu groß.“

Verteilungskämpfe um Arbeit und Wohnungen

Das hat verschiedene Gründe. Die Syrer dürfen offiziell keine Jobs annehmen. Sie bieten daher ihre Arbeitskraft auf dem Schwarzmarkt zu Hungerlöhnen an. Das wiederum empört die Einheimischen, die auf den gängigen Lohn angewiesen sind. Verteilungskämpfe gibt es auch ums das in Jordanien ohnehin sehr knappe Wasser. Hinzu kommt: Die Preise für Wohnungen sind explodiert. Prekär ist auch die Schulsituation. Nur ein kleiner Teil der Flüchtlingskinder kann unterrichtet werden.

Bei aller Hilfsbereitschaft: Dem Königreich macht die Versorgung der Hilfesuchenden aus dem Nachbarland schwer zu schaffen. Nicht zuletzt, weil die Unterstützung von außen zunehmend schwindet. Erst vor wenigen Tagen musste 230.000 syrischen Flüchtlingen die Lebensmittelhilfe gestrichen werden. Das Welternährungsprogramm hat dafür kein Geld mehr. Auch Misty Buswell von der internationalen Kinderhilfsorganisation Save the Children warnt: „Immer mehr Menschen sagen: Wir haben nichts zu verlieren. Deshalb denken sie darüber nach, ihre jetzigen Zufluchtsorte zu verlassen.“ Und versuchten, die dafür erforderlichen Mittel irgendwie zusammenzukratzen.

In Schutt und Asche gebombt: Die syrische Stadt Aleppo gleicht einer Trümmerlandschaft.
In Schutt und Asche gebombt: Die syrische Stadt Aleppo gleicht einer Trümmerlandschaft.

© imago/Zuma Press

Als besonders dramatisch gilt die Situation im Libanon. Dort verbietet die Regierung, feste Lager zu errichten – aus Furcht, die Flüchtlinge könnten wie vor Jahrzehnten die Palästinenser dauerhaft bleiben. Deshalb hausen Hunderttausende in erbärmlichen Notunterkünften aus Stangen und Planen, in Garagen, Ruinen oder auf freiem Feld. Das kleine Land ist mit dem Ansturm der Syrer völlig überfordert. Gut vier Millionen Libanesen beherbergen mittlerweile schätzungsweise 1,2 Millionen Flüchtlinge. Vielleicht sind es auch mehr. Viele von ihnen waren schon arm, als sie ihre Heimat verließen. Heute sind sie oft noch ärmer. Wer kann unter diesen Bedingungen schon einen Schleuser bezahlen? Dennoch mehren sich die Gerüchte, Schlepper würden auch im Libanon vermehrt ihre kriminellen Dienste anbieten.

Potenzielle Kundschaft finden sie vor der deutschen Botschaft in Beirut. Berichte über eine freizügige deutsche Aufnahmepraxis haben dazu geführt, dass noch mehr Syrer als sonst sich vor dem Gebäude versammeln. Sie alle wollen auf legalem Weg nach Deutschland. Ein Visum erhalten allerdings nur die Wenigsten. Und jene, die leer ausgehen, wollen sich in die Hände der Schlepper begeben. Sie glauben, keine andere Wahl zu haben.

Gewalt und Tod gehören in Syrien zum Alltag

Doch bei allem Elend, bei aller Verzweiflung: In Syrien selbst ist das Leid ungleich größer. Im Bürgerkriegsland gehören Gewalt und Tod zum Alltag. Fast 250.000 Menschen sind bislang bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Bis zu acht Millionen haben ihr Zuhause verloren, zwölf Millionen sind auf Nothilfe angewiesen. Das Leid der Zivilbevölkerung sei unvorstellbar, erklärte jüngst der UN-Menschenrechtsrat.

Angriffe gegen Frauen, Kinder und Männer gehören zum festen Bestandteil der Militäroperationen – das gilt sowohl für die Regierungseinheiten von Machthaber Baschar al Assad als auch für die bewaffnete Opposition. Die Bevölkerung leidet unter Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Entführungen und Folter. Gezielt werden Märkte, Schulen und Krankenhäuser attackiert. Hunger wird als Waffe eingesetzt. Terrorgruppen wie die Nusra-Front und der „Islamische Staat“ herrschen in den von ihnen kontrollierten Gebieten mit gnadenloser Brutalität. Betroffene wie Beobachter sind sich einig: Syrien gleicht einer Hölle. Wer kann, versucht zu entkommen

Deutschland, der Rettungsanker

Vertreter der Hilfsorganisationen vermuten deshalb: Jene Syrer, die jetzt zu Tausenden nach Europa drängen, sind direkt aus dem Bürgerkriegsland geflüchtet. Sie wollen dorthin, wo sie eine Chance sehen, ein neues Leben zu beginnen. Wie viele Menschen sich auf den Weg machen werden, weiß keiner zu sagen. Doch klar ist: Die Flüchtlinge sehen in Deutschland einen Rettungsanker. Dass die Bundesregierung unbürokratisch Syrer als Asylsuchende anerkennt, hat sich rasch herumgesprochen. Dazu kommen die Bilder von fröhlich winkenden Landsleuten, die auf Bahnhöfen in Berlin und München herzlich begrüßt werden. Das macht Hoffnung auf einen normalen Alltag. Weit entfernt von Krieg und Not.

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