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Am Ufer des Inn. Leen Shaker (l.) und Omara Chaar (2. v. r.) kamen aus Syrien nach Passau. Marion Leebmann und Sonja Steiger-Höller stehen ihnen seit einem Jahr mit Hilfe und Rat zur Seite.

© Patrick Guyton

Flüchtlinge in Deutschland: Wie ein Jahr das ganze Leben umkrempeln kann

Leen Shaker und Omara Chaar sind vor einem Jahr mit hunderttausenden anderen Flüchtlingen am Passauer Bahnhof angekommen. Was aus ihnen geworden ist.

Dass sie an diesem Sommer-Spätnachmittag zu viert vor dem Theatercafé in der Passauer Altstadt sitzen, war nicht erwartbar gewesen. Da sind Sonja Steiger-Höller und Marion Leebmann, ehrenamtliche Flüchtlingshelferinnen. Und da sind Leen Shaker und Omara Chaar, Asylbewerber aus Syrien. Vor einem Jahr sind die beiden Flüchtlinge in Passau aus dem Zug gestiegen – Chaar Ende Juni; Shaker Mitte Oktober. Sie kamen in der damals unendlich wirkenden Masse der Menschen an dem überschaubaren Bahnhof an, ein paar Plastiktüten mit sich.

Nach vielen Grenzen war die deutsch-österreichische bei Passau die letzte, die sie passieren mussten. Am Bahnhof wurden sie auch von den beiden Helferinnen begrüßt, mit Tee und Keksen versorgt, weitergeleitet. Bis zu 10 000 Flüchtlinge sind damals jeden Tag in der Drei-Flüsse-Stadt angekommen. Nach der Sperrung des Münchner Hauptbahnhofs war Passau von der Balkan-Strecke aus das Tor nach Deutschland.

Jetzt, im Café, unterhalten sich der 22 Jahre alte Omara Chaar und die 29-jährige Leen Shaker auf Deutsch. „Ich bin jetzt A 2“, sagt er. „Ich B 2“, antwortet sie. A 2, B 2 – das ist wichtiger Bestandteil des neuen Lebens. Es sind die Einstufungen ihrer Deutsch- Sprachkurse. „Die Sprache ist das Wichtigste“, sagt Shaker. Seit sieben Monaten lernt sie Deutsch, spricht exzellent. Die beiden Helferinnen haben sich um den Werdegang der beiden mitgekümmert, seit einem Jahr.

Zwei seiner Geschwister leben in Deutschland

Die Biografien: Leen Shaker hatte in Damaskus Zahnmedizin studiert, promoviert und als Zahnärztin gearbeitet. Sie ist Fachärztin für Kieferorthopädie. Leen sagt, sie war in der „letzten Gruppe der Flüchtlinge“, die es vor der Schließung der vielen Grenzen noch nach Deutschland geschafft hat. In zehn Tagen ist sie von Damaskus über den Libanon in die Türkei gekommen, dann mit Schmugglern in einem Gummiboot nach Griechenland und weiter die bekannte Route. Die Mutter und die kleine Schwester harren weiter in Damaskus aus. Zwei Geschwister sind in Deutschland.

Omara Chaar hatte im syrischen Aleppo, der am brutalsten umkämpften Stadt des Landes, Jura studiert. Seine Flucht dauerte fast zwei Monate. Im türkischen Izmir hatte er sieben Mal versucht, nach Griechenland zu kommen, ein Mal wäre er fast ertrunken. Er landete im Gefängnis. In Griechenland lief er zu Fuß bis zur mazedonischen Grenze. Er bestach Polizisten, verharrte in Mazedonien acht Tage lang im Wald. In Serbien musste er Grenzbeamte schmieren. Nach elf Tagen im ungarischen Knast brachten ihn Schmuggler in einem Van schließlich nach Deutschland. Chaar geht mit dieser Geschichte ganz unbefangen um: „Das hat mich 6500 Euro gekostet.“

Seine Eltern leben weiterhin in Aleppo, in dem kaum mehr ein Stein auf dem anderen steht. Was heißt leben: Das Haus ist zerstört. „Sie wohnen und schlafen in verschiedenen Autos“, erzählt Omara Chaar. Sein Bruder ist in Krefeld gelandet, ein Onkel ist in Kanada. Wenn er von seiner Schwester eine Voice Message empfängt, eine gesprochene Nachricht, dann sind im Hintergrund Schüsse zu hören. Es ist die Hölle von Aleppo. „In Syrien habe ich fast nur Freunde, die tot sind“, sagt Chaar.

Ein Hilfs-Automatismus

Die Helferinnen Sonja Steiger-Höller und Marion Leebmann stammen aus jener gesellschaftlichen Mitte, über die die Politik immer wieder spricht. Die eine arbeitet in Passau als Kosmetikerin, die andere hat einen kleinen Souvenirladen. Kinder im pubertierenden Alter, Ehemann, alles ganz normal. Es ist diese Mitte, über die etwa die CSU sagt, dass sie mit ihren Ängsten und Sorgen, speziell in der Flüchtlingsproblematik, nicht wahrgenommen, übergangen wird.

Die beiden Frauen sehen das anders. „Das war so ein Hilfs-Automatismus im vergangenen Herbst“, erinnert sich Steiger-Höller an die Tage und Nächte am Bahnhof. Sie kamen und kamen. Als dann die große Masse durchgezogen war, gingen die beiden in die Unterkünfte. Leebmann macht seitdem Kleider- und Haushaltsbasare, damit sich die Leute mit dem Notwendigen eindecken können.

Der Syrer Chaar war monatelang am Bahnhof anzutreffen. Mit einem Megafon rief er, selbst gerade erst angekommen, den aus den Zügen quellenden Flüchtlingen auf Arabisch zu: „Willkommen, Ihr seid in Deutschland, Ihr seid in Sicherheit, Ihr braucht keine Angst mehr zu haben!“ Seit Kurzem lebt er jetzt nicht mehr im Asylbewerberheim, sondern hat ein Apartment in einem Haus, in dem sonst Studenten wohnen.

Nach dem Deutschkurs, noch ein Deutschkurs

Sein Tagesablauf: Als Gaststudent absolviert er an der Uni ein Praktikum im Medienbereich. Es folgt der amtliche Deutschkurs, danach bis in den späten Abend online ein weiterer. Momentan bezieht er Grundsicherung, doch so soll es nicht bleiben. Stolz zeigt er seine Aufenthaltsberechtigung für drei Jahre.

Die Zahnärztin Leen Shaker hat auch ein eigenes Apartment. Neben dem Deutschlernen bemüht sie sich um ihren Beruf. Sie möchte ihre Zahnarzt-Zulassung beantragen. Viele Zeugnisse hat sie dafür auf eigene Kosten amtlich aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzen lassen. Bis zu einem Leben als Zahnärztin will sie als Zahnarztassistentin arbeiten. Es tut sich so viel in dem Leben der 29-Jährigen. Sie hat lange, schwarze Haare, trägt ein schwarzes Kleid, die Fingernägel sind rot lackiert. In ihrer Asylunterkunft war sie die einzige Frau, die kein Kopftuch getragen hat.

„Mia packen das“, lautet der Spruch von Passaus Oberbürgermeister Jürgen Dupper in Anlehnung an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dupper setzte sich konsequent für die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge ein. Jeden Abend ging er zum Bahnhof, um sich ein Bild zu machen, um von den Helfern aufzunehmen, was benötigt wird. Vielleicht hat der Einsatz auch mit der Lage von Passau zu tun. „Wir haben immer vom Austausch mit unseren Nachbarn profitiert“, sagt Dupper. „Wir waren immer Grenzland, wir sehen uns als grenzübergreifende Stadt.“ Österreich und Tschechien sind in unmittelbarer Nähe.

Es gibt auch schwierigere Fälle

Doch gibt es in Passau auch Flüchtlinge, die Probleme bereiten. „Junge Männer harren in den kleinen Zimmern der Unterkünfte aus und machen nichts“, sagt Marion Leebmann. Manche Familien kann sie kaum erreichen – etwa jene aus Afghanistan mit vier Kindern. Der Vater spricht nur in seiner Sprache, die Mutter ist Analphabetin. Leebmann will ihnen dennoch irgendwie erklären, wie Deutschland funktioniert – wo der Briefkasten ist, wie man Müll beseitigt und einen Arzttermin vereinbart.

Wie konnte es geschehen, dass sich Flüchtlinge radikalisieren, dass sie sich als Mitglied der Terrormiliz „Islamischer Staat“ sehen und die beiden Anschläge in Bayern verübt haben? Leen Shaker und Omara Chaar werden bei der Frage sofort sehr ernst. „Das sind ganz wenige“, meint Shaker, „ich kenne solche Leute nicht.“ Beide sagen immer wieder: „Es sind Idioten, es sind Verbrecher.“ Omara Chaar erzählt, was er sich im Biergarten anhören muss. Manchmal kämen dumme, rassistische Sprüche. Chaar antwortet darauf gern: „Servus, habe die Ehre.“

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