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Wir schaffen das, sagte die Kanzlerin - hier in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Spandau. Die vom Gegenteil überzeugt sind, haben nicht die besten Argumente.

© Foto :Bernd von Jutrczenka/dpa

Flüchtlinge und Tabus: Was man eben nicht wohl noch sagen sollte

Man wird doch wohl noch ...? Eben nicht. Dem Reden über die Flüchtlingskrise täten ein paar Tabus ganz gut - im Sinne der Realität. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Es gebe Redetabus in der Debatte um Flüchtlinge, und die müssten fallen. Das meint der grüne Bürgermeister der idyllischen Stadt Tübingen, und er ist nicht der Einzige. Etwas schwer zu verstehen, was Boris Palmer da meint, angesichts Tausender, die in Dresden und anderswo diese Tabus immer wieder brechen, nicht flüsternd am Kneipentisch, sondern über Lautsprecher. Und besorgte Bürger, die sich nicht so lautstark aussprechen – wer hat davon keine in der Familie, als Kollegin, Freund?

Überhaupt hat das Tabu zu Unrecht einen schlechten Ruf. Nicht nur wird damit vieles umetikettiert und zum Abschuss freigegeben, was sonst als „Höflichkeit“ und „Manieren“ gilt – dass man Menschen nicht als Schmarotzer beschimpft zum Beispiel, schon gar nicht, bevor man sie überhaupt kennt – diese Gesellschaft akzeptiert auch einige Tabus, die sie zu einer besseren gemacht haben. Die Ächtung des Antisemitismus zum Beispiel hat ihn nicht beseitigt, aber politisch eingehegt und wird hoffentlich auf Dauer verhindern, dass er einmal wieder den Ton angeben darf.

Es ist Zeit, einen Toast aufs Tabu auszubringen. Und sich gerade jetzt ein paar Tabus mehr zu wünschen. Hier eine kleine Auswahl von Lieblingsplattitüden, deren Tabuisierung in Reden, Leitartikeln, Smalltalks die Wahrheitsfindung in der Debatte um Flüchtlinge kein bisschen hindern, sondern voranbringen würde – indem man Unsinn bannt, der, oft wiederholt, irgendwann als korrektes Abbild der Wirklichkeit erscheint:

Popanz Obergrenze

„Es muss eine Obergrenze des Zustroms geben.“ Muss? Kann aber nicht. Deswegen bleiben die Obergrenzpolizisten der öffentlichen Debatte auch regelmäßig Vorschläge schuldig, wie denn diese Obergrenze aussehen, wonach sie berechnet wird und wer sie festlegen darf. Sechzig Millionen Menschen weltweit auf der Flucht: So wie es leider keine Obergrenze für Zerstörung, Krieg, Folter, Not gibt, so kann es auch keine Grenze der Hilfe für die geben, die dies trifft. Dem stehen völkerrechtliche Verträge entgegen, auf die Deutschland und Europa sich verpflichtet haben. Vor allem aber Regeln des Zusammenlebens, die so alt sind wie die Menschheit selbst.
„Wir Deutschen können nicht das Elend der ganzen Welt ...“ Natürlich könnten wir das nicht. Aber die Frage stellt sich auch nicht. Von denen, die die apokalyptischen Reiter unserer Zeit in die Flucht treiben, kommen nur Prozentbruchteile ins reiche Europa. Das diese Bruchteile weiter verkleinert, indem es sichere Zugänge verweigert und stattdessen die Todesziffern im Mittelmeer hochtreibt. Das Elend der ganzen Welt, das angeblich in unseren Teil der Welt strömt, ist nichts als ein Popanz.

Als zwölf Millionen nach Westen flohen

"Wir schaffen das nicht.“ Die Deutschen haben es vor 25 Jahren geschafft, eine funktionierende mit einer maroden Volkswirtschaft zu vereinen, mit allen Konsequenzen, sie lebten vor 70 Jahren in einem zerstörten und demoralisierten Land und schafften es im Westen binnen wenigen Jahren an die Weltspitze der Industrieländer – nebenbei nicht zuerst aus eigener Kraft, sondern durch den Milliarden-Dollar-Segen der damals weitblickenden USA.

Anders als in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 waren damals allein in Westdeutschland zwölf Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene zu versorgen, die in der Tat sozialen Sprengstoff in die junge Bundesrepublik brachten. Er wurde entschärft, unter anderem durch ein Wohnungsbauprogramm, das in sechs Jahren drei Millionen neue Wohnungen bereitstellte.

„Fluchtursachen bekämpfen ist besser, als Flüchtlinge in Europa zu haben.“ Klar ist das besser. Friedenspolitik, Rüstungsexportstopps, Hilfe zum Aufbau demokratischer Gesellschaften, das ist alles gut und richtig. Aber es dauert Jahre. Und es hilft denen nicht mehr, die sich jetzt sofort in Sicherheit bringen müssen.

Die wahren Deutschen sind die Fremden

„So viele Fremde, das ist nicht mehr Deutschland.“ Im Gegenteil, das wird erst richtig Deutschland. Niemand diskutiert ernsthafter, engagierter, informierter darüber, was deutsch ist, als die Kinder der Einwanderer. Schließlich sind sie es, die täglich darauf gestoßen werden, dass sie’s angeblich nicht sind. Und die sich stolz und auch ein bisschen provozierend bei „Deutscher Soldat“ engagieren oder sich „Neue Deutsche“ nennen. Sie sind es, für die deutsch mehr ist als ein Wort auf Behördenformularen. Und sie haben die Sprache dafür, das zu formulieren.

Liebe Leserin, lieber Leser, so viele schöne Tabus ließen sich wünschen! Aber der Platz ist einfach zu knapp. Nun denn, bis zum nächsten Mal! Kommentieren und diskutieren Sie mit!

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