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Gerettet. Flüchtlinge haben in der kalabrischen Stadt Corigliano Calabro einen Frachter verlassen, dessen Besatzung sie zuvor gerettet hat. Foto: Monica Curia/dpa

© dpa

Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Stimmungsmache in Italien

In Italien kocht die Flüchtlingsdebatte hoch: Der Streit zwischen einzelnen Regionen um die Verteilung der Flüchtlinge wird immer schärfer. Gleichzeitig zeigen sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten mit der Situation überfordert.

Der ungebremste Zustrom von Flüchtlingen im Mittelmeer sowie die Schüsse von Schleusern auf ein Rettungsboot treiben Italien zunehmend an den Rand einer politischen Krise. Gleichzeitig wird der Streit zwischen den einzelnen Regionen um die Verteilung der Flüchtlinge immer schärfer. Die kalabrische Hafenstadt Corigliano will Flüchtlinge schon gar nicht mehr an Land gehen lassen; die von der rechtsextremen Lega Nord regierten Regionen Venetien und Lombardei haben verkündet, bei ihnen sei „null Platz“ für die Unterbringung.

Währenddessen ruft der Führer der Lega Nord, Matteo Salvini, zur Besetzung „jedes Hotels, jeder Schule oder Kaserne“ auf, welche die Regierung in Rom für „angebliche Flüchtlinge“ einziehen will. In einem dringenden Rundschreiben hatte das Innenministerium kurz zuvor die Präfekten der einzelnen Regionen aufgefordert, 6500 neue Plätze für die Geretteten aufzutreiben.

Anhänger Silvio Berlusconis wettern gegen die „Invasion“, an welcher die „mörderische“ Politik der linken Regierung von Matteo Renzi schuld sei; diese gefährde die Sicherheit nicht nur der Einsatzkräfte im Mittelmeer, sondern der ganzen Gesellschaft. Giovanni Donzelli, ein rechter Bewerber um die Präsidentschaft der Toskana, sagte am Mittwoch, angesichts der Bedrohung Italiens durch Propagandisten des „Islamischen Staates“ sei „Gastfreundschaft gegenüber solchen Leuten der reine Wahnsinn“.

Dass die politische Debatte um die Flüchtlinge in Italien derzeit so hochkocht, liegt auch an den bevorstehenden Regionalwahlen, zu denen am 31. Mai die Hälfte der Italiener aufgerufen ist. Lega-Chef Salvini betrachtet sie als große Chance, angesichts der zerfallenen Berlusconi-Partei Forza Italia die Führung im gesamten rechten Lager zu übernehmen. Mit einem rechtsextremen Wahlkampf spricht er die niedersten Instinkte seiner Landsleute an und ist dabei, einen Rassismus zu schaffen, der Italienern bisher weitgehend fremd ist.

Einschließlich der etwa 9000 Flüchtlinge, die in den vergangenen vier Tagen von Schiffen der Küstenwache, der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex und mehreren Handelsschiffen gerettet worden sind, zählt Italien 2015 bereits mehr als 20 000 Ankömmlinge. Das sind jetzt schon deutlich mehr als im Rekordjahr 2014, in dem das Land unter der Last von 170 000 Flüchtlingen stöhnte; nach Europa insgesamt gelangten damals 278 000 Personen. Der Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, warnt die Europäer bereits vor einer „noch schwierigeren Situation“. An Libyens Küsten, so Leggeri, seien „je nach Quelle zwischen 500 000 und einer Million Menschen zum Aufbruch bereit“.

Allerdings ist nicht absehbar, dass sich an der EU-Flüchtlingspolitik schnell etwas ändert. Ende Mai will der für Migration zuständige EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos eine neue Strategie zur Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU vorstellen. Der Migrationsexperte Yves Pascouau vom Brüsseler Thinktank „European Policy Centre“ geht aber nicht davon aus, dass sich damit die bisherige Linie der EU grundlegend ändern wird. „Ein Umschwenken bei den bestehenden Regeln zur legalen Einwanderung ist nicht in Sicht“, sagt Pascouau.

Nach den Worten von Pascouau müssen die EU-Staaten aber zur Kenntnis nehmen, dass die Grenze der Belastbarkeit für die Nachbarländer des vom Bürgerkrieg geschundenen Syrien bei der Aufnahme von Flüchtlingen allmählich erreicht sei. Die EU-Staaten nähmen nur drei Prozent der insgesamt vier Millionen Syrien-Flüchtlinge auf, sagt Pascouau. Gleichzeitig befänden sich Staaten wie der Libanon, dessen Bevölkerung wegen des Flüchtlingszustroms in den vergangenen Jahren um 20 Prozent gewachsen sei, „am Rande des Zusammenbruchs“. Nicht mehr existent ist die staatliche Ordnung nach den Worten von Pascouau in Libyen – deshalb sei es für die EU gegenwärtig aussichtslos, mit dem nordafrikanischen Land eine Vereinbarung über den Umgang mit Flüchtlingen zu schließen. „Die EU hat die Verantwortung, die Menschen zu retten, welche die Flucht über das Mittelmeer antreten“, sagt Pascouau.

Allerdings verfügt die gegenwärtige EU-Überwachungsoperation im Mittelmeer, die Mission „Triton“, nur etwa über ein Drittel der finanziellen Ressourcen der Vorgängeraktion „Mare Nostrum“. Italien hatte bis zum vergangenen Oktober jeden Monat rund neun Millionen Euro für die Mission „Mare Nostrum“ und damit für die Rettung von Flüchtlingen ausgegeben. Die EU-Mission „Triton“ unter der Führung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex hat in erster Linie das Ziel, die Außengrenzen der EU zu überwachen. Allerdings gehört auch die Rettung von Flüchtlingen zu den Aufgaben von „Triton“. Frontex hatte am Dienstag berichtet, dass ihre Operation bei einer Rettungsaktion vor der libyschen Küste von Schmugglern angegriffen wurde, nachdem die EU-Grenzschutzagentur rund 250 in Seenot geratene Migranten gerettet habe.

In Berlin erklärte die Grünen-Vorsitzende Simone Peter, die Einstellung von „Mare Nostrum“ sei „ein tödlicher Fehler“ gewesen. Dagegen sagte ein Sprecher des Innenministeriums, heute würden mehr Flüchtlinge gerettet als während des „Mare Nostrum“-Programms. Das Programm war nach der Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa vom Oktober 2013 eingerichtet worden, bei der mehr als 360 Menschen ums Leben kamen. Anschließend wurden mithilfe von „Mare Nostrum“ rund 130 000 Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet.

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