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Flüchtlinge an der kroatisch-slowenischen Grenze.

© AFP

Flüchtlingskrise: Wir brauchen eine europäische Identität

Nicht nur bei der Flüchtlingskrise zeigt sich: Die EU kann nur als Bürgerprojekt erfolgreich sein - indem sie politisch erwachsen wird. Ein Gastbeitrag.

Die Flüchtlingsströme der letzten Monate haben sowohl die Notwendigkeit als auch die Handlungsunfähigkeit europäischer Politik schonungslos offenbart. Deutsche Probleme sind ungarische, sind griechische, sind türkische. Während nun auch dem Letzten klar sein dürfte, dass die Zeit der Kleinstaaterei endgültig vorbei ist, scheint eine echte "europäische Lösung" in weiter Ferne zu liegen. Bei mehr als 28 Ländern am Verhandlungstisch wird ein Kompromiss zwangsläufig zur diplomatischen Herausforderung. Doch Politik ist immer, egal ob lokal oder international, der Ausgleich verschiedener Interessen. Was die Handlungsfähigkeit der EU an der Wurzel untergräbt, ist der Mangel einer politischen europäischen Identität.

Mit Maastricht, Schengen und Dublin wird derzeit nur so um sich geworfen. Egal ob Finanz-, Wirtschafts- oder Flüchtlingskrise, in Europa wird viel über Regeln und Reformen gesprochen. Zwar haben die Krisen Mängel im komplizierten Konstrukt EU zu Tage geführt, doch ist das nur eine Seite der Medaille. "Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben" – diese Warnung Jacques Delors' bewahrheitet sich nun auf schmerzhafte Weise. Die Gründungsväter der EU bauten darauf, dass die politische Integration der ökonomischen folgen würde. Doch die Vision vom "immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker" aus den Römischen Verträgen, klingt dieser Tage wie eine Utopie.

Brüssel wird zum prädestinierten Sündenbock

Die formelle Integration der EU ist im Eiltempo vorangeschritten. Märkte wurden geöffnet und nationale Zuständigkeiten abgegeben. Solange die Wirtschaft wächst und gedeiht, ist solch eine "lieblose" Integration ohne größere Widerstände möglich. Politikwissenschaftler nennen das Output Legitimität. Sobald eine Krise die Bürger jedoch direkt betrifft - sei es durch Arbeitslosigkeit oder eine Flüchtlingswelle - wird dieses ferne Brüssel, das sie weder verstehen noch (zumindest gefühlt) gewählt haben, zum prädestinierten Sündenbock. Der Eindruck hilflose Beobachter zu sein, bietet fruchtbaren Nährboden für Populismus jeglicher Couleur und schränkt den Handlungsrahmen überzeugter Europäer à la Schäuble zusätzlich ein.

Europäische Eliten haben den Pflug vor den Ochsen gespannt: ideelle Integration sollte institutioneller Integration am besten vorausgehen, zumindest aber damit einhergehen. Ein Kontinent lässt sich nicht allein durch Normen und Gesetze zusammenführen; eine Form von gemeinsamer Identität ist unerlässlich. Delors erkannte auch das frühzeitig. Als Kommissionspräsident forderte er vor dem Europäischen Parlament im Jahre 1989 "dieser Gemeinschaft mehr Gestalt zu verleihen und (...) sie mit mehr Seele zu erfüllen." Wie diese Seele für das institutionelle Gerippe der EU aussehen könnte, bleibt jedoch unklar.

An Ideen zur europäischen Identitätsfindung mangelt es nicht. Historisch wäre eine kontinentale Identität alles andere als ein Novum. Ursprünglich als christlicher Verbund in Abgrenzung zum osmanischen Orient wahrgenommen, wurde Europa nach der Französischen Revolution zu einer kulturellen Gemeinschaft der Eliten. Diese identitätsstiftenden Verbindungen durch den gemeinsamen intellektuellen Schatz der Aufklärung, werden auch heute gerne beschworen - von Politikern mit der mechanisch vorgebrachten Worthülse "europäische Wertegemeinschaft" und Intellektuellen mit Verweisen auf Goethe und Voltaire.

Solche Argumente überschätzen nicht nur das aufklärerische Bewusstsein der gemeinen Bevölkerung, sie führen außerdem schnell auf (wenn auch hoch-) kulturelle Assimilation hinaus. Es sei an die unfruchtbare deutsche Leitkultur-Debatte vor 15 Jahren erinnert; der Begriff wurde vom Soziologen Bassam Tibi ursprünglich im europäischen Kontext eingeführt. Auch nur der Eindruck von kultureller Angleichung zu Lasten nationaler Eigenheiten kann zum Spiel mit dem Feuer werden. Zudem ist das friedliche Nebeneinander der Kulturen Kern der europäischen Idee. Anders als das amerikanische Motto soll in Europa nicht "aus vielen Eines" werden, sondern der Kontinent "in Vielfalt geeint."

Verweise auf gemeinsame europäische Werte klingen staatstragend ansprechend. Die historische Anomalie 70 friedlicher Jahre in Europa ist die kostbarste Leistung und Daseinsgrund der EU. Eindrucksvoll waren auch die Bilder von den Menschen auf dem Maidan in Kiew, die für diese Werte ihr Leben riskierten. Doch weiter gen Westen sind Freiheit und Frieden, und auch (be-)greifbarere Errungenschaften wie Schengen und Erasmus, Selbstverständlichkeiten geworden. Historisches Bewusstsein und intellektuelle Bindemittel entfalten ihre vereinigende Kraft zumeist nur im akademischen Elfenbeinturm und politischen Sonntagsreden.

Ein weiterer Ansatz zur europäischen Identitätsförderung zielt auf Symbole und Ikonen ab. Die Amerikaner haben Uncle Sam, elf nationale Feiertage und ihre Präsidenten ikonisch auf Dollarnoten dargestellt. Die EU hingegen verfügt weder über eine offizielle Hymne noch einen Feiertag; kaum jemand weiß, was es mit dem Mythos der namensgebenden Göttin Europa auf sich hat; und die Brücken und Tore auf den Euroscheinen verleiten selbst den geneigtesten Föderalisten nicht gerade zum Schwenken der Europaflagge. Ohne diesen Vergleich überzustrapazieren, hat Europa sicherlich Nachholbedarf in Sachen Semiotik. Doch auch Konterfeie von EU-Gründungsvätern wie Monnet oder De Gasperi auf Geldscheinen würden kaum entscheidend zu einer europäischen Identität beitragen.

Wie erreicht man eine Alltagsidentität?

Flüchtlinge an der kroatisch-slowenischen Grenze.
Flüchtlinge an der kroatisch-slowenischen Grenze.

© AFP

Anstelle von Symbol- und Identitätspolitik, Geschichtsverweisen und elitärer Kulturargumente braucht Europa etwas bescheideneres und menschennäheres: eine politische Identität. Europäer müssen das politische Projekt EU akzeptieren und sich zu einem gewissen Grad damit identifizieren. Was zunächst wenig ambitioniert klingen mag, ist der Kern des europäischen Solidaritätsproblems. Es geht nicht um Momentaufnahmen von EU Zustimmungswerten; die öffentliche Meinung ist ohnehin wie ein Fähnchen im Wind. Doch die Identifikation mit einem politischen System sitzt tiefer. Man mag vielleicht der aktuellen nationalen Regierung ablehnend gegenüberstehen, doch ist es unwahrscheinlich das System in Gänze in Frage zu stellen. Die Identifizierung mit der Nation, in die man hineingeboren wurde, geschieht beinahe automatisch. Bei einem jungen politischen Konstrukt wie der EU, ist dies ein deutlich kognitiverer Prozess, der einer konzertierten Anstrengung bedarf.

Mangelhaftes Verständnis von Brüssel

Wie erreicht man nun eine solche Alltagsidentität? Am Anfang steht, wie so oft, die Bildung. Europäische Schulabsolventen haben häufig ein mangelhaftes Verständnis von Brüssel. Wer kennt schon den Unterschied zwischen der Europäischen Kommission und dem Parlament? Während vollkommene historische Alphabetisierung ein unrealistisches Ziel darstellt, besteht kein Grund, warum ein europäischer Schüler nicht zumindest genauso vertraut mit dem europäischen, wie mit seinem nationalen politischen System sein sollte. Schulen müssen zumindest den Grundstein für die Vertrautheit mit EU Institutionen legen - am besten durch didaktisch ansprechende Formate wie Simulationen und in historischen Kontext eingebettet.

Diese Vertrautheit ist dann auch das wichtigste Mittel, um das vielzitierte Demokratiedefizit der EU zu überwinden. Kritiker mahnen an, dass die Europäische Kommission nicht demokratisch gewählt sei, woraufhin Befürworter die indirekte Legitimität durch die nationalen Regierungen und das direkt gewählte Europäische Parlament anführen. Trotz Verbesserungsmöglichkeiten ist die formelle Struktur der EU jedoch nicht des Übels Ursache. Ein Konstrukt, das 28 Mitgliedsstaaten, deren Minister, Regierungschefs und eine eigene Exekutive unter einen Hut bringen muss, ist notwendigerweise komplex und undurchsichtig. Die eigentliche Wurzel des demokratischen Problems der EU, ist die Abwesenheit einer wahren europäischen Öffentlichkeit.

Der Anteil nationaler Gesetze mit Einfluss aus Brüssel wird auf bis zu 86 Prozent geschätzt. Dies schlägt sich jedoch nicht in der Berichterstattung nieder, die sich zumeist auf Krisengipfel beschränkt. Das ist der Kardinalpunkt: Demokratie bedingt eine informierte Öffentlichkeit. Politisch interessierte Deutsche kennen üblicherweise mehr Kandidaten des amerikanischen Vorwahlkampfes, als EU Kommissare (letztere sind zugegebenermaßen weniger unterhaltsam). So erklärt sich auch das Gefühl der Bürger, keine Stimme in Brüssel zu haben. Dabei ist der europäische Gesetzgebungsprozess transparenter und zugänglicher als in den meisten Mitgliedsländern. Nur durch ständigen Kontakt mit EU Politik, können Bürger Vertrauen in die Institutionen gewinnen und europäische Politiker aus der Anonymität erhoben werden. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen Brüssel als Abstellgleis politischer Frührentner galt; doch besteht angesichts von Europapolitikern ohne Format und häufig mangelnden Englischkenntnissen, Luft nach oben. Ein "EU Politik"-Teil in Tageszeitungen würde lediglich der Bedeutung Brüssels für das Leben der Leser entsprechen. Bleibt die nationale Vorherrschaft in den Medien bestehen, wird Brüssel weiterhin als fremdartiges, dauerhaft krisengeschütteltes Gewächs wahrgenommen—ganz egal wie mobil oder kosmopolitisch Europäer auch werden mögen.

Sicherlich muss man den Brand erst einmal löschen, ehe man das Haus wieder aufbaut. Neben Diskussionen über Abwicklungsmechanismen von Banken und Staaten, ein gesamteuropäisches Flüchtlingsgesetz oder mögliche Fiskalkompetenzen der Europäischen Kommission, sollte sich die öffentliche Debatte dennoch mit der Frage nach einer europäischen Identität auseinandersetzen. Dabei erscheint eine zivile europäische Identität als das realistischste Fernziel. Dazu muss als Mindestvoraussetzung der Umgang mit nationalen und EU Nachrichten gleichermaßen routiniert und vertraut werden. Eine politische Union bedingt ein gewisses Maß an Loyalität und Solidarität. Das kann die EU nur als Bürgerprojekt erreichen, indem sie politisch erwachsen wird. Erst dann werden Initiativen wie Junckers 16-Punkte-Plan vor dem jüngsten Flüchtlingsgipfel nicht wie ein voradventlicher Wunschzettel daherkommen. Ohne eine europäische Integration mit ein wenig Seele, wird jede wirtschaftliche und humanitäre Krise leicht existentiell und die Zukunft der EU zum ewigen Spießrutenlauf.

Der Autor arbeitet am Department of Politics und International Relations der Universität Oxford.

Nils Röper

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