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Flüchtlingszahlen, Pegida & Co.: Kein flüchtiger Moment

Vor 20 Jahren floh sie aus Bosnien nach Deutschland. Damals waren die Asylzahlen auf Höchststand, es kam zu Übergriffen. Heute verfolgt Amela die Flüchtlingsdebatte mit deutschem Pass – und könnte aus Erfahrung verzweifeln.

Amela sitzt an ihrem Küchentisch in Berlin-Moabit. Draußen ist es nasskalt, und eine Art Klammheit breitet sich trotz Heizung auch drinnen aus. Amela hat Zeitung gelesen. Nun schlägt sie die zu, legt sie zur Seite. Sie seufzt tief auf. Wieder sind knapp 1000 Menschen auf einem abgewrackten Schiff auf hoher See zwischen Griechenland und Italien gefunden worden, hat sie gelesen, Syrer, die aus ihrer Heimat, die jetzt ein Kriegsgebiet ist, flüchten. Und dass in diesem Jahr mehr Menschen als je zuvor nach Europa kommen werden. Und jedes Mal, wenn sie so etwas liest, versetzt es ihr einen Stich. „Denn ich weiß, was es bedeutet zu flüchten“, sagt sie.

Amela kam wegen der Balkankriege Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland . Sie lebte in Bosnien, wo Freunde plötzlich Feinde waren, ethnische Grenzen aufploppten, und es plötzlich hieß: Versteck dich! Und sie kam in ein Land, das gerade das Wort „Überfremdung“ zum Unwort des Jahres kürte. Ein Land, das sich trotz seiner hervorragenden wirtschaftlichen Stellung in der Welt hinter Parolen wie „Das Boot ist voll“ verschanzte und erbittert über Flüchtlinge stritt: ihre wachsende Zahl, ihre Unterbringung, ihre Verteilung in Europa, ihre Verteilung in Deutschland, wie und wann man sie wieder loswird – und was das alles kostet.

Was damals in Bosnien geschah - sie hat es tief in sich begraben

Ein Wunder überhaupt, wie wenig abschreckend so etwas offenbar auf die Neuankömmlinge wirkt. Andererseits: Flüchtlinge sind keine Urlauber. Sie kommen nicht voll Neugier auf ein neues Land. Sie kommen als Verstörte, sind angstbeladen.

Amela zum Beispiel kann auch 20 Jahre nach den Erlebnissen nicht über die Flucht sprechen, ohne dass diese tiefe Traurigkeit in ihr aufsteigt. Und weil es ihr wichtig ist, ihr Leben in Deutschland – inzwischen inklusive Staatsbürgerschaft, Hochschulabschluss und Anstellung – von den schlimmen Schatten der Vergangenheit frei zu halten, spricht sie über sich nicht gerne unter ihrem richtigen Namen. Amela soll reichen. Sie hofft, dass das verstanden wird.

Von dem, was war, hat sie bisher wenig weitererzählt. Das sei auch alles nichts, was sich bei der Arbeit zwischen „Mahlzeit!“ und dem Kaffee hinterher erzählen lasse. Nur einige Freunde wüssten Bescheid. Denn jedes Mal, wenn sie von damals spricht, tauchen sie wieder auf, die gut verdrängten Bilder. Menschen sind vor ihren Augen erschossen worden. Ihr Onkel und dessen Sohn wurden so brutal zusammengeschlagen, dass beide keine Zähne mehr hatten.

Es gab Srebrenica, und die Welt sah zu. Heute sei es ähnlich, sagt sie

Amela sagt: „Die Welt hat zu lange gebraucht, um zu verstehen, dass wir schnell Hilfe benötigen.“ Zu lange: In den Balkankriegen starben von 1991 bis 1999 mehr als 220 000 Menschen, es gab Srebrenica, mehr als 3,5 Millionen Menschen verloren ihre Heimat.

Und auch heute, so sieht sie es, werden zu viele Menschen auf der Welt zu lange im Stich gelassen. Amela zeigt auf die zusammengefaltete Zeitung. „Der Krieg in Syrien, die Boko Haram in Afrika – das sind Massaker, die dort stattfinden.“ Schlepperbanden verdienen Geld, wenn sie Flüchtlinge aus Afrika und Syrien auf ausrangierten Schiffen übers Meer bringen. Oft genug werden die Flüchtlinge auf hoher See von der Besatzung einfach im Stich gelassen. Es macht den Eindruck, als sei Europa abermals überfordert. Oder tue zumindest so.

Die heutigen Flüchtlingsdebatten machen Amela manchmal wütend – vor allem, wenn sie an die Bürokratie denkt. Wie lange das alles dauere. Immer noch! Zwar wird momentan diskutiert, die Verfahren zu verkürzen. Aber regulär dauert es immer noch bis zu acht Monate, bis jemand einen Asylantrag in den Händen hält. Amela schüttelt den Kopf. „Es geht um Menschenleben!“ Das werde dabei vergessen. „Wir mussten damals auch länger als ein halbes Jahr warten, bis wir einreisen durften.“

Sie sagt: „Das wird alles rein rational beurteilt – der Mensch hinter dem Antrag auf Asyl und sein Schicksal wird dabei außen vor gelassen.“ Das zu erleben, in einer Situation gerade überwundener fundamentaler Not, in der man aus dem Haus, aus dem Land gejagt wurde, um alle Rechte gebracht – ist nicht so leicht. Es ist die nächste große Abwertung.

Es hat sich seit den 1990er Jahren einerseits viel getan - andererseits furchtbar wenig

Wer hinter welcher Fahne steht. Die Pegida-Demonstrationen haben die Flüchtlingsdebatte radikalisiert.
Wer hinter welcher Fahne steht. Die Pegida-Demonstrationen haben die Flüchtlingsdebatte radikalisiert.

© AFP

Amelas Familie bekam die Einreiseerlaubnis am Ende nur, weil Amelas Bruder, damals 25 Jahre alt, im Krieg angeschossen worden war. Weil man ihn in Bosnien nicht richtig behandeln konnte, wurde er von Ärzten nach Deutschland überführt. Die Familie durfte nachreisen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass jemand in Deutschland für sie bürgen würde. „Damit wir dem Staat nicht auf der Tasche liegen“, sagt Amela. Ihr Leben bekam also einen Preis.

Eine Deutsche, die durch die Ärztin von Amelas Bruder mit der Familie in Kontakt gekommen war, übernahm das. Sie bürgte für die gesamte Familie. „Das war Wahnsinn!“, sagt Amela. „Die Frau hat uns damit sozusagen unser Leben gerettet.“ Nicht das reiche Deutschland. Es gibt diese Konstruktionen heute auch für Flüchtlinge aus Syrien. Wenn in Deutschland lebende Verwandte nachweisen, dass sie genug Geld haben, um für Wohnung und Essen aufzukommen, dürfen die Bedrängten einreisen. Kritiker nennen das eine Zwei-Klassen-Lösung: Rettung nur für Reiche.

Die Chiffres jener Jahre heißen Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen

Die Zahl der neu gestellten Asylanträge in Deutschland ist heute wieder so hoch wie 1993. Die Reaktion im Land darauf ist mancherorts offen feindselig. In den 1990er Jahren gab es keine „Pegida“-Bewegung, damals gab es Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, todbringende Überfälle auf Ausländer. Und dass jetzt in Dresden ein Asylbewerber aus Eritrea erstochen aufgefunden wurde, weckt schlimmste Erinnerungen. 1993 wurde der sogenannte „Asylkompromiss“ Gesetz, der Verfahren beschleunigen und Missbrauch begrenzen sollte, außerdem wurde die Drittstaatenregelung eingeführt, nach der niemand Anspruch auf Asyl in Deutschland hat, der über ein EU-Land einreist. 1995 sagte der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) über Deutschlands Aufnahmezahlen: „Ich bin der Meinung, dass wir unsere Pflicht erfüllt haben“, nun seien die EU-Partner dran – und löste mit dieser Schlussstrichrhetorik Empörung aus. Und doch fehlt bis heute in Europa ein fester Verteilungsschlüssel, und in Deutschland wagt die Politik sich weiterhin nur zögernd an die Frage heran, ob Deutschland ein Einwanderungsgesetz brauche oder nicht.

Und so hat sich, wenn Amela auf ihr Leben zurückschaut, in ihrer Entwicklung einerseits unglaublich viel getan seit damals – und andererseits passiert erschreckend wenig.

Amela bringt Kleidung und Spielzeug ins Flüchtlingsheim

Seit vor allem der syrische Bürgerkrieg die Asylbewerberzahlen auch in Berlin wieder stark steigen ließ, bringt Amela immer wieder Spielzeug und Kleidung in das Flüchtlingsheim in der Lewetzowstraße in Moabit. Eine Selbstverständlichkeit für sie. Sie sagt: „Ich weiß ja, wie es ist, wenn man alles verloren hat.“ Die Zustände dort seien schlimm. So habe sie damals zum Glück nicht gelebt, weil sie gleich von der Frau in die Wohnung aufgenommen wurde. Sehr viele Menschen auf sehr engem Raum sind hier im Flüchtlingsheim. Männer und Frauen sitzen apathisch auf ihren Betten, bewegen sich langsam durch die Gänge des Gebäudes. Nur in den Kindern scheint noch Leben zu sein. Sie spielen auf dem Boden. Die Kleinsten unter ihnen rufen Besuchern manchmal ein vorsichtig fröhliches „Hallo“ durch den langen Flur zu.

Andererseits gebe es heute mehr psychologische Betreuung, als damals üblich gewesen sei. Sie kenne noch Frauen, die vergewaltigt und gezwungen wurden, die Kinder zur Welt zu bringen – und die mit diesen Geschichten allein bleiben.

Die unglaubliche Anstrengung des ihres Aufstieg

Wer hinter welcher Fahne steht. Die Pegida-Demonstrationen haben die Flüchtlingsdebatte radikalisiert.
Wer hinter welcher Fahne steht. Die Pegida-Demonstrationen haben die Flüchtlingsdebatte radikalisiert.

© AFP

Über ihre eigene Flüchtlingsgeschichte spricht Amela nicht, wenn sie im Heim ist. Sie geht dorthin als Mitglied der deutschen Gesellschaft und setzt sich für Hilfsbedürftige ein. Die meisten Gesichter der Menschen seien voller Trauer, sagt sie. Es ist die Trauer, die sie kennt. Wie auch den zweiten Gedanken: dass man wenigstens in Sicherheit ist. Es ist eine Erleichterung, gepaart mit der Sorge um die Zurückgebliebenen.

Amela erinnert sich: Schwer sei der Anfang gewesen, sehr schwer. Die Behördengänge. Die Angst, doch wieder abgeschoben zu werden. „Vor jedem Termin hatte man Bauchschmerzen“, sagt sie. Von einigen Mitarbeitern in den Behörden sei sie nicht gerade freundlich behandelt worden, berichtet sie. „Du fühltest dich da nicht als vollwertiger Mensch“, sagt sie. Sie meldete sich schnellstens zu einem Deutschkurs an. Saugte die neuen Worte förmlich auf, wollte wieder ein geregeltes Leben haben. Innerhalb weniger Monate lernte Amela, sich gut zu verständigen.

Sie lernte, lernte und lernte - nicht jeder hat so viel Biss

In Bosnien hat sie eine Ausbildung zur Wirtschafts- und Handelskauffrau abgeschlossen. Die wurde in Deutschland allerdings nicht anerkannt. Bis heute wird über die vereinfachte Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse vor allem diskutiert. Das sei schlimm für die Menschen, die ins Land kämen, sagt Amela, und falsch auch mit Blick auf Deutschland selbst, das doch dauernd den Fachkräftemangel beklage. Vor allem viele der geflohenen Syrer gelten als gut ausgebildet, es sind viele Akademiker unter ihnen. „Das sollte Deutschland viel mehr nutzen“, sagt Amela. Und es hätte damit auch schon viel eher anfangen müssen. Viele Einwanderer hätten dadurch besser aufgefangen und integriert werden können. „Die Menschen wollen doch nichts mehr, als hier gebraucht werden, endlich wieder normal arbeiten können“, sagt sie. So war es auch ihr selbst gegangen, das war ihr damals unsagbar wichtig.

Und so brachte sie überdurchschnittlich viel Energie auf. Sie holte das Fachabitur im Oberstufenzentrum Banken und Versicherungen in Alt-Moabit nach und schrieb sich danach an einer Fachhochschule ein, an der sie ein Betriebswirtschaftsstudium absolvierte. Dabei kam es zu seltsamen Begegnungen. „Dort waren mehrere Flüchtlinge aus Jugoslawien“, erzählt sie. Das habe die Stimmung anfangs sehr getrübt. Es herrschte gegenseitiges Misstrauen. Sie waren dabei, den Krieg in die Gegenwart zu holen. „Erst nach ein paar Wochen ist das vollständig von uns abgefallen“, betont Amela. Sie stockt, schaut auf. „Was Krieg aus den Menschen macht“, sagt sie.

Die Behörden sind das Nadelöhr. "Es kommt drauf an, an wen du gerätst."

Sie hat sich ihre Berufsausbildung selbst finanziert, Bafög gab es nicht, weil sie nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung hatte. „Ich wusste ja nie, ob die wieder verlängert wird.“ Diese Ungewissheit sei sehr anstrengend gewesen, sagt sie. Trotzdem behielt sie die Nerven. Hielt sich mit Putzen und Aushilfsjobs im Supermarkt finanziell über Wasser. Später absolvierte sie zusätzlich noch ein Praktikum in der Privatbank im Grunewald. „Abends kam ich total platt nach Hause und musste dann ja noch lernen. Aber es ging, weil ich so unbedingt wollte“, berichtet Amela. „Ich habe in den vier Jahren meines Studiums nachts wirklich immer nur so drei bis vier Stunden geschlafen.“ Amela lacht und ihre Augen bekommen diesen freundlich-kämpferischen Glanz. Sie schloss ihr Studium als beste ausländische Studentin ihres Jahrgangs ab. Alles aus eigener Kraft.

Die heute 40-Jährige führt in Berlin schon lange ein ganz normales Leben. Sie arbeitet als Fachassistentin der Geschäftsführung im Jobcenter Berlin. Hier bekommt sie auf dem Flur immer wieder mit, wie auch heute Menschen um ihren Einlass in die deutsche Gesellschaft kämpfen. „Klar erinnert mich das an meine Situation vor 20 Jahren“, sagt Amela. Manche sind verzweifelt, wenn sie auch heute noch als minderwertig behandelt werden. Andere wiederum sind froh, dass ihnen vom freundlichen Personal weitergeholfen wird. „Es kommt immer darauf an, an wen du gerätst, das war damals auch schon so.“ Helfen kann sie aus ihrer aktuellen Position nicht. Sie hat keinen Kundenkontakt.

Bevor sie ihre Stelle im Jobcenter antrat, arbeitete sie für eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft als Sachbearbeiterin und als Assistentin, dann als Finanzbuchhalterin in verschiedenen Häusern. Auch Weiterbildungen absolvierte Amela immer wieder, um auf dem aktuellsten Stand zu bleiben. Das alles erzählt sie mit Stolz. Zu Recht. Nicht alle Flüchtlinge haben einen ausreichend starken Willen, um sich trotz der vielen Hindernisse, die Einwanderern in Deutschland in den Weg gelegt werden, durchzusetzen. Sie rutschen ab. Amela schüttelt heftig den Kopf.

Nur Flüchtlinge, die etwas erreichen, sind gute Botschafter

„Jeder, der will, findet eine legale Arbeit“, sagt sie. Und jeder Flüchtling, der etwas Gutes für sich selbst erreiche, erreiche damit auch etwas für alle Flüchtlinge. Wie umgekehrt jeder, der sich danebenbenehme, auch allen anderen schade. Die Dealer aus dem Görlitzer Park etwa. Für die hat Amela überhaupt kein Verständnis. Obwohl sie ihnen gut nachfühlen könne, wie es ist, fremd zu sein und nicht zu wissen, was wird.

Amela plädiert für die heilende Wirkung von Arbeit. „Und wenn es auch nur kleine Jobs wären, es würde ihnen einen Eingang in die Gesellschaft hier ermöglichen, eine Perspektive geben“, sagt sie. Und das sei wichtig für eine erfolgreiche Integration. Das hat sie an sich selbst gemerkt und erlebt. „Du brauchst die Anerkennung, und die hast du nur als Arbeitender in der Gesellschaft.“ Besonders, wenn man Ausländer ist.

Theodora Mavropoulos

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