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Politik: Folgen fürs Land

Von Malte Lehming

Ein Mensch wird erniedrigt, gefoltert, inhaftiert. Unschuldig sitzt er viereinhalb Jahre in Haft, zuerst im afghanischen Kandahar, dann in Guantanamo. Was ihm zugefügt wird, ist empörend, was er erleidet, unvorstellbar. Das sind die gesicherten Fakten im Fall des Bremer Türken Murat Kurnaz. Jeden moralisch intakten Beobachter muss dieses Schicksal aufwühlen. Dass Kurnaz eine Entschuldigung und hohe Entschädigung verdient hat, steht außer Frage. Wer darüber streitet, ist ein Lump.

Wer aber muss sich entschuldigen und die Entschädigung zahlen? Und: Wer trägt die oberste Verantwortung für den Skandal? Diese Debatte ist nun mit voller Wucht entbrannt. Diverse Dokumente erhärten einen bösen Verdacht: Eine von den USA 2002 angebotene Freilassung von Kurnaz aus Guantanamo soll die damalige rot-grüne Bundesregierung nicht nur abgelehnt, sondern aktiv verhindert haben. Das klingt unglaublich, ist aber im Kern bis heute nicht widerlegt worden. Der prominenteste Repräsentant der alten Regierung ist der damalige Kanzleramtschef und heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Auf seine Rolle konzentrieren sich daher die Untersuchungen. Hier und da wird bereits sein Rücktritt gefordert.

Doch auch in der Politik gilt bis zum abschließenden Beweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung. Hastige Vorverurteilungen tragen ebenso wenig zur Aufklärung bei wie demonstrative Gesinnungsgesten. Nicht die enttäuschten Gemüter über eine angebliche rot-grüne Doppelmoral gilt es zu besänftigen, sondern das Warum einer erschreckenden Inhumanität zu erhellen. Zum Beispiel: Von wem kam das vermeintliche Auslieferungsangebot der Amerikaner, wie seriös war es? Guantanamo fällt in die Zuständigkeit des Pentagon, das Angebot indes soll von der CIA gekommen sein.

Entscheidend ist auch die Plausibilitätsfrage. Warum, in aller Welt, sollen sich Bundeskanzleramt, Bundesinnenministerium, BKA und BND derart vehement gesträubt haben, den in Bremen geborenen und aufgewachsenen jungen Mann wieder einreisen zu lassen? Nun, ganz unverdächtig erschien Kurnaz zunächst nicht. Gut drei Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 fliegt der damals 19-Jährige nach Pakistan und schließt sich einer muslimischen Missionarsschule an. Doch verboten ist das nicht. Spätestens nachdem die US-Ermittler signalisierten, nichts Konkretes gegen Kurnaz in der Hand zu haben, hätte die deutsche Seite alles tun müssen, ihn aus seinem Martyrium zu befreien.

Ein stimmiges Bild ergibt sich bisher nicht. Aber die Vorwürfe, die kursieren und zum großen Teil dokumentarisch belegt werden, sind gravierend. Sollten sie zutreffen, wäre das Vertrauen in die staatlichen Institutionen erschüttert. Insbesondere Steinmeier ist in diesen Tagen und Wochen ohnehin außerordentlich belastet. Deutschland hat zum Jahresbeginn die EU-Ratspräsidentschaft und den G-8-Vorsitz übernommen. Die ganze Welt schaut auf die Außenpolitik der Bundesregierung. Wer jetzt bereits Rücktrittsforderungen erhebt, muss die Folgen fürs Land wohl bedenken.

Der Aufklärungsdruck ist gewaltig gestiegen. Aussitzen lässt sich der Skandal nicht. In einem beschleunigten Verfahren muss Steinmeier als Zeuge so schnell wie möglich Rede und Antwort stehen. Vielleicht hat er Gründe gehabt, vielleicht Fehler gemacht, vielleicht kann er sich im Amt halten. Alles das wird sich zeigen. Vorrangig will die Öffentlichkeit nur eines: verstehen, was geschah.

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