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Franz Müntefering tritt ab: „Ich bin ein guter Zweiter“

Vor 38 Jahren wurde er zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. Seitdem hat er fast alles erreicht, was man in der SPD werden kann: Generalsekretär, Fraktionsvorsitzender, Minister, Parteichef. Jetzt geht Franz Müntefering in Rente und zieht Bilanz: Das mit dem SPD-Vorsitz, sagt er, war ein Fehler.

Er geht mit schnellen Schritten. Quer durch das Reichstagsgebäude, vorbei an den hohen Glaswänden des Plenarsaals, er hat es eilig, er hat einen Termin. Aber dann muss er stehen bleiben. „Herr Müntefering“, ruft eine der Reichstagsgarderobefrauen, „so jung kommen wir nicht mehr zusammen.“ Müntefering muss lachen. So jung. Er ist 73 Jahre alt. Und dann nimmt er sich einen Keks aus der Schachtel, die ihm die Frau hinhält. Franz Müntefering hat sehr gute Laune.

Distanziert, unterkühlt, knurrig, kurz angebunden – das sind die Etiketten, die an ihm kleben. Aber heute und hier im Bundestag scheinen es ganz falsche Etiketten zu sein. 1975 wurde er Abgeordneter, 38 Jahre ist das her. Er gehört zur Familie. Und die Frauen an der Garderobe gehören eben auch dazu.

Ohne Abitur zum Erfolg

Der Termin ist eine Besuchergruppe aus dem Rhein-Erft-Kreis in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, aus dem auch Müntefering stammt. Im Sauerland ist er im Januar 1940 geboren, hat dort Fußball gespielt und acht Jahre die Schule besucht. Kein Jahr länger. Volksschule sagte man damals. Abitur hat er nie gemacht, dafür eine kaufmännische Lehre. Spezialität Kopfrechnen.

Nun steht er vor seinen Besuchern, schlank, drahtig, das Gesicht von den markanten Müntefering-Falten modelliert, tief eingegraben und dennoch keineswegs 73-jährig. Gibt Auskunft über Mindestlohn, Leiharbeit, Schuldenbremse und was die Frager sonst noch wissen wollen.

„Können Sie kochen?“

„Nein. Ich kann nur Brote schmieren.“

Der andere Müntefering

Er hat die blaue Anzugsjacke ausgezogen, krempelt die Hemdsärmel hoch, und Müntefering, bekannt für seine berüchtigten Drei-Wort-Sätze („Opposition ist Mist“), entpuppt sich plötzlich als weitschweifiger Plauderer mit Conferencierqualitäten, jederzeit bereit, auch Sätze mit 30 Wörtern anstandslos aufzusagen. Dieser karge, spröde Franz Müntefering – ein Missverständnis? „Auf jeden Fall“, sagt Kajo Wasserhövel, 15 Jahre hat er eng mit ihm zusammengearbeitet, von 1994 bis 2005, heute berät er Unternehmen, früher war er Staatssekretär bei Müntefering. Zugewandt sei der, offen, freundlich. Viel kommunikativer, als er öffentlich wahrgenommen wird.

Nur sein Körper will von dieser Lockerheit nichts wissen, steif steht er da, drückt das Rückgrat durch, verschränkt die Arme vor der Brust oder legt die Hände an die Hosennaht und dementiert so die Leichtigkeit seiner Worte, als wollte er sagen: Ich kann auch anders; ich bin der Franz, aber ich bin auch der Müntefering.

Ein Abschied mit Schirm und Melone

Vielleicht hätte man diese verschiedenen Facetten des Franz Müntefering schon zuvor bei der Begegnung in seinem Abgeordnetenbüro erahnen können. Ein Porträtgemälde von Willy Brandt hängt da an der Wand und eine Fotografie von Helmut Schmidt. Die beiden Kanzler als Vorbilder? „Nein, ich habe keine Vorbilder, ich will kein Nachbild sein.“ Aber da ist noch ein weiteres Foto – Charlie Chaplin ist darauf zu sehen. Was hat es hier im Abgeordnetenbüro zu suchen? Zeigt es die geheimen Seiten des Franz Müntefering? Und da kommt es endlich, das berühmte Müntefering-Stakkato: „Witzig. Lakonisch. Sarkastisch. Melancholisch.“ Es ist, als hätte Müntefering über sich selbst gesprochen.

Wichtiger als die Bilder aber ist in diesem Büro etwas anderes, lehnt in einer Ecke an der Wand und ist eine stumme Ankündigung. Ein Stapel Umzugskartons. Franz Müntefering räumt sein Büro. Franz Müntefering verabschiedet sich von der Politik, kandidiert nicht wieder für den Bundestag. Gerade ist die letzte reguläre Sitzungswoche vorübergegangen, und die Besuchergruppe aus dem Rheinland war die letzte Gruppe seines politischen Lebens. Er räumt auch seine Berliner Wohnung, wird nach Herne ziehen. Dort lebt seine Frau Michelle.

Münteferings Karriere und seine ganz persönlichen Höhepunkte

Generalsekretär, Bundes- und Landesminister, Fraktionsvorsitzender, Parteivorsitzender: Müntefering ist fast alles gewesen, was man in der SPD werden kann. Aber das Größte, sagt er, was ich in der Politik erreicht habe, ist, „dass ich als Abgeordneter gewählt wurde“. Grundgesetz, murmelt er, alle Macht geht vom Volke aus. Demokratie-Stolz. Demokratie-Pathos.

Das Zweitgrößte in seiner Karriere, sagt er, war das Amt des Fraktionsvorsitzenden („da kann man was bewegen“) und das Drittgrößte die Begegnung mit Personen wie Brandt, Wehner, Schmidt.

Der SPD-Vorsitz? Ein Fehler.

Eigenartig, in seiner Bilanz fehlt ausgerechnet das, was man eigentlich an der ersten Stelle dieses Katalogs erwartet hätte: seine Zeit als SPD-Vorsitzender. Nein, sagt Müntefering, die politischen Spielräume seien da viel geringer, als man glaube, ja, es sei womöglich ein Fehler von ihm gewesen, den Vorsitz überhaupt angenommen zu haben. Natürlich habe damals Eitelkeit eine Rolle gespielt: plötzlich in einer Linie von Brandt und Bebel stehen. Aber wahrscheinlich war die Entscheidung falsch.

Es war im Jahr 2004 gewesen, die SPD befand sich im freien Fall, Agenda 2010, der Kanzler und Parteivorsitzende Gerhard Schröder stand im Sturm der Genossen. Und da kam jene Idee, von der Müntefering heute meint, sie sei nicht die klügste gewesen: Kanzlerschaft und Parteivorsitz trennen, und Müntefering als befriedende Instanz zum Mann der Partei zu machen. Was er zweifellos war. Dummerweise war er aber – was die Agenda 2010 anging – auch ein Mann Schröders. Weshalb die Idee alsbald die Gestalt einer Katze annahm, die sich in den Schwanz beißt. „Das hat die Statik in der Partei nicht zum Positiven verändert“, sagt Müntefering heute.

Typisch münteferingsch

Und er zeigte, dass er nicht an seinem Amt hing. Verließ es schon nach einem Jahr und trat 2007 auch als Minister zurück, um bei seiner todkranken Frau Ankepetra sein zu können. Wurde 2008 noch einmal als Nothelfer an die Parteispitze geholt und warf 2009 erneut hin. Müntefering und der SPD-Vorsitz – es war kein Verhältnis, auf dem Segen liegen sollte. „Ich bin immer ein guter Zweiter gewesen“, sagt Franz Müntefering nun in seinem Noch-Büro mit Blick auf Charlie Chaplin und die Umzugskartons. Es ist kein wehmütiger Blick.

Mag sein, dass das sauerländisch ist, aber vielleicht ist es einfach nur münteferingsch: dass die Betrachtung der Dinge möglichst immer und möglichst nur eine nüchterne Betrachtung zu sein habe. Sentimentalitäten gestattet er sich nicht, jedenfalls wenn es um seinen Politikabschied geht. Fall in die Bedeutungslosigkeit? Ruhestand als Loch ohne Boden? Ach was.

Natürlich kennt er das Problem, gerade in den vergangenen Jahren hat er sich intensiv mit demografischen Entwicklungen und Fragen des Alterns befasst. 30 Prozent der Männer brechen im Ruhestand gesundheitlich ein. Noch viel mehr geraten in Sinnkrisen. Schwierige Phase, sagt er, Frauen erleben das oft anders. Warum? „Weil Frauen buntere Lebensbiografien haben.“

Ruhestand ist Kopfsache

Er jedenfalls werde diese Männerprobleme nicht haben. Weil er zu tun hat. Weil er erstens Präsident des Arbeitersamariterbundes ist, zweitens Stiftungsbeirat des Hospiz- und Palliativdienstes, drittens Botschafter des Landessportbundes NRW für die Aktion „Bewegt älter werden“.

Und weil er viertens, aber das sagt er nicht, eine Frau geheiratet hat, die 40 Jahre jünger ist als er, die ihn gehörig auf Trab bringt. Auch das sagt er nicht. Er sagt nur: „Ich bin ungewöhnlich viel unterwegs mit meiner Frau. Seit ich sie kenne, habe ich mehr Länder gesehen als in all den Jahren zuvor.“

Manche haben gestaunt, dass er sich nach dem Tod von Ankepetra so schnell wieder gebunden hat. Hat er doch vor Jahren ein wunderliches Wort geprägt. „Ich bin ein Alleiner“, sagte er und meinte damit: „Ich bin nicht so kumpelig, umarme Menschen nicht so oft, und man muss nicht mit allen gleich per Du sein.“ Aber einsam, nein, das sei er nie gewesen. Im Übrigen sei er ohnehin nie allein, er habe doch immer seinen Kopf dabei.

Über Wahlkampfeinschätzungen und Parteisoldaten

Ein Kopf, der immer auch ein Querkopf war und der seiner SPD in Zukunft fehlen wird. Gerade jetzt in diesen Zeiten, da die Sozialdemokratie von einem Tiefpunkt zum anderen taumelt und manch einer die kommende Bundestagswahl schon verloren geben möchte. Gar nichts gibt Müntefering verloren, für Schwarzmaler ist er keine gute Adresse. Eine Neuauflage von Schwarz-Gelb werde es nicht geben, „Westerwelle hat die FDP in eine Ecke geführt, aus der sie nicht mehr herauskommt“. Und in einem Müntefering-fremden Überschwang sieht er in Deutschland eine „sozialdemokratische Phase“ heraufziehen – nicht fern am Horizont, sondern ganz real in der Gegenwart. In den Ländern und Kommunen habe sie schon begonnen. Die Kanzlerin habe alle ihre marktradikalen Positionen längst aufgegeben und SPD-Vorschläge übernehmen müssen. „Daran haben wir Anteil.“ Er sagt dabei nicht, dass genau das im Wahlkampf das Hauptproblem der SPD ist: die Sozialdemokratisierung der Union. Peer Steinbrück übrigens sei durchaus der richtige Kandidat. Und sein Gesicht verrät auch diesmal nicht, ob er seinen Worten glaubt.

Müntefering ein Parteisoldat?

„Parteisoldat“ ist er oft genannt worden, Müntefering mag das Wort nicht, aber Loyalität zählt gewiss zu seinen Grundwerten, da mögen die Stürme noch so sehr toben. Man darf nämlich nicht vergessen, dass Franz Müntefering zu den Tiefwurzlern gehört, deutlich zu unterscheiden von den so genannten Breitwurzlern. Er hebt jetzt an zu einem kleinen botanischen Exkurs, immer wieder beliebt bei Politikern. Guttenberg zum Beispiel hatte sich mit einer oberfränkischen Wettertanne verglichen, Philipp Rösler mit einem Bambusrohr – schwankt, aber bricht nicht. Müntefering zieht es auch zu den Bäumen, und deshalb erzählt er nun, was mit den Fichten geschieht, wenn ein Orkan über sie herfällt. Sie kippen um, weil sie eben Breitwurzler sind. Einer Eiche würde das nie passieren; denn Eichen wurzeln fest und tief im Boden. Sie bleiben stehen, wenn die Stürme kommen.

„Wenn er eine Überzeugung hat“, sagt Kajo Wasserhövel über seinen früheren Chef, „dann bleibt er dabei.“ Wenn man wolle, dann könne man das auch stur nennen.

Die neu entdeckte Liebe zum Leben

Das Holz, aus dem er ist. Wetterfest und hart und zäh, altdeutsches Material, 73 Jahresringe. Langsamer sei er geworden, sagt Franz Müntefering. Aber das langsamere Leben ist womöglich ein Glück. Denn das Tempo der Politik, dieses irrwitzige Tempo, immer eine schnelle Antwort haben, „das ist eine Krankheit“. Gerade im Finanzkapitalismus sei das so. Weil dann die Heuschrecken kommen und im Handumdrehen die Felder leer gefressen haben. Empörung hat er geerntet, als er das vor Jahren einmal laut und öffentlich gesagt hat. Und Erstaunen, besonders in der eigenen Partei: dass der Agenda-Münte plötzlich den Linksaußen macht.

Franz Müntefering und die Entdeckung der Langsamkeit. Er hat keinen Computer, sondern arbeitet noch immer auf seiner weißen Triumph-Schreibmaschine. Er hat kein iPhone, „ich will nicht immer erreichbar sein“. Und wenn er im Tiergarten joggen geht, dann laufen die jungen Leute an ihm vorbei. „Das ist nicht so doll“, sagt er leise.

Aber man möge sich nicht täuschen, das Älterwerden habe nämlich noch eine Überraschung parat: „Die Liebe zum Leben wächst. Denn man begreift: Das Leben ist nicht in der Zukunft. Das Leben ist das, was gerade stattfindet.“

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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