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2013

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Politik: Fremde Worte, seltsame Melodien

Lieder erobern Herzen, Gesangbücher erzählen Geschichte. Zum 1. Advent wird das neue „Gotteslob“ in den katholischen Gemeinden eingeführt. Das provoziert keinen Aufstand mehr wie oft in den vergangenen 500 Jahren – ein Kulturereignis ist es trotzdem. Vielleicht das letzte dieser Art.

Das wahre Gesangbuch treibt seine Fans auf die Barrikaden, zu Tumulten und Prügeleien, die von der Polizei gestoppt werden: So passierte das jedenfalls Ende des 18. Jahrhunderts.

Da hatten in Pfarreien des Bistums Hildesheim und in Rüdesheim die Kirchenfürsten ihren Schäfchen eine modernere Liederfibel verordnet. Im katholischen Eichsfeld dauerte der Gesangbuchkrieg ein halbes Jahrhundert. „Du verfluchter Gänsejunge, häst in der Kärche neuwe gesunge“, riefen die Aufbegehrenden ihrem Dorf-Organisten nach. Haft- und Geldstrafen sollten der Kulturrevolution von oben Respekt verschaffen. 700 Soldaten mussten nach Dingelstädt, als da „wegen der neuen Gesangbücher rebelliert wurde“. Aufmüpfiges Kontra-Singen aus Traditionsbüchern ließ den Widerstand während jeder Messe neu aufleben. Etwas moderater wurden Sangesneuerungen im protestantischen Thüringen eingeführt, dort gaben die Herausgeber sich verständnisvoll: Die Gesangbuchskeptiker seien wohl „bey hohem Alter unfähig, irgendeine neue Vorstellungsart anzunehmen“. Die Novität wurde auf Befehl des Landesherrn zunächstt zum halben Preis verkauft, ab Advent 1810 jedoch für alle verbindlich! Bis dahin dürften nur noch Verse gesungen werden, die im alten wie im neuen Buch abgedruckt seien ...

Wenn 203 Jahre später, am morgigen 1. Advent 2013, wieder ein neues Katholikengesangbuch, „Gotteslob“ genannt, nach zwölfjähriger Brütezeit und einer Unterkommissionsgründung der Bischofskonferenz, unter Einbeziehung zahlreicher Beratergremien, flankiert von breiter „Akzeptanzerhebung“ und unzähligen Arbeitsgruppenmeetings, bestätigt durch einen zweijährigen Test in 186 Pfarreien und genehmigt von der Gottesdienstkongregation des Vatikans, dem Kirchenvolk in 37 Diözesen Deutschlands, Österrreichs und Südtirols anvertraut wird, ist ein Aufschrei frommer Sänger kaum mehr zu erwarten.

Dass der Adventstermin gefährdet schien, lag eher an einem gerade erst beigelegten Streit um den sensiblen Dünndruck: Als Anfang September zehn Prozent der Vier-Millionen-Startauflage ausgeliefert waren, reklamierten die Auftraggeber das Papier, bestanden auf der bestellten Sorte „Thinopaque“. Die chorumrahmte Medienpräsentation des neuen „Gotteslob“ im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann war davon allerdings nicht beeinträchtigt. Kardinal Rainer Maria Woelki nannte das Gesangbuch „nicht für den Augenblick“, sondern wenigstens für „eine Generation“ gemacht – ein „kulturelles Ereignis“. Es enthalte auch Texte der in Auschwitz ermordeten Nonne Edith Stein, des jüdischen Religionswissenschaftlers Shalom Ben Chorin und natürlich Martin Luthers, ohne den so ein Buch nie entstanden wäre. Als App dürfe man es leider, aus rechtlichen Gründen, nicht anbieten.

Tatsächlich hat die Geschichte deutscher Kirchenliedbücher, die in dieser Form das App-Zeitalter vielleicht nicht überstehen, mit Martin Luther begonnen, vor 500 Jahren. Aktiver Gemeinschaftsgesang entsprach damals dem aufrührerischen Gottesdienstkonzept vom Priestertum aller Gläubigen. Zugleich dienten volkssprachliche Lieder den Reformatoren als ideales Medium, ihre Interpretation des Evangeliums zu verbreiten. Bis dahin waren Bücher mit liturgischen Singtexten für die lateinische Schola verwandt worden. Luthers Achtliederbuch von 1524 vermittelte als Zufallsmenü aus fünf Melodien, vier selbst gedichteten und weiteren Gesängen Kernthemen seiner Theologie. Der neue Buchdruck beschleunigte die Verbreitung weiterer Kompilationen und Neudichtungen, wobei zunächst Pastoren und Kantoren solche teuren Bücher zur Verfügung haben, dann gebildetete Bürger, und erst mit dem 18. Jahrhundert die ganze Gemeinde. Aus dem Vehikel für Gottesdienstbelebung und Dogmenpropaganda wird eine private Andachtsvorlage, die bald als sakrales Accessoire zum Inbild des Kirchgangs im Sonntagsstaat gehört.

Mit dem Pietismus, der das fromme Subjekt in den Vordergrund rückt, entstehen neue Sammlungen inniger Glaubensbekundung, die Jahrzehnte später aus dem Zeitgeist der Aufklärung überformt werden. Eine rationalistische Songbook-Mode kommt auf, welche dann wieder romantischen Liederbuchprojekten des 19. Jahrhunderts weichen muss, der Rückbesinnung aufs ältere Traditionsmaterial. Protestantische Einheitsgesangbücher des 20. Jahrhunderts sollen schließlich die Vielfalt landeskirchlicher Überlieferungen vereinen: Im vierten, dem aktuellen „Evangelischen Gesangbuch“ (EG) von 1993, sind Lieder aus 800 Jahren, Psalmen und Cantica aus 3000 Jahren zusammengeführt.

Als erste katholische Gegenreaktion auf die Erfolge des evangelischen Gemeindegesangs wurde 1537 in Leipzig Michael Vehes „New Gesangbüchlin Geistlicher Lieder“ gedruckt. Der Hallenser Dominikaner übernimmt protestantische Hits, passt sie katholischen Lehren notdürftig an, bevorzugt beim Abdruck katholischer Evergreens oft die evangelische Version. Erst am Ende des Reformationsjahrhunderts entwickelt eine spezifisch katholische Gesangbuchproduktion der Jesuiten eigenes konfessionelles Profil, das sich mit Beiträgen zur Wallfahrtsliturgie, Marien- und Heiligengesängen von den Andersgläubigen unterscheidet. Während der Barockzeit steigt die Zahl der Gesangbücher, die das Volk für den alten Glauben zurückgewinnen sollen; das 18. Jahrhundert beglückt auch die Katholiken mit vom Aufklärungsgeist inspirierten Neubearbeitungen. Die zweite Strophe des alten Hymnus „Christ ist erstanden“ lautet im pädagogischen Grundton der Epoche: „Was er uns gelehret / o Menschenkinder! höret / es eifrig und mit Freuden an / es führt uns auf der Tugendbahn! / Alleluja!“

Auch für die Katholiken schwingt das ideologische Pendel zurück: Dem rationalistischen Trockenfutter folgen romantisierende Rückgriffe aufs Mittelalter sowie kirchenmusikalische Offensiven, die mit der Einführung von Diözesangesangbüchern den gläubigen Volksgesang befördern. Jugendbewegte Traditionserkunder des 20. Jahrhunderts hinterlassen mit volkstümlich gestalteten Liedrekonstruktionen ihre Spuren. Nach dem Aufbruch des II. Vatikanischen Konzils (1962–65) öffnet sich 1975 das erste katholische Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ dem ökumenischen und zeitgenössischem Liedgut; es ruiniert aber manche holprige Poesie mit neoaufklärerischer Besserwisserei.

Singfibeln verflossener Jahrhunderte spiegelten Wandlungen des Zeitgeistes und bekräftigten in ihren „Vorreden“ den eigenen spirituellen Anspruch: „GOTT lasse dir dein brünstiges Singen einen süßen Vorgeschmack werden, deßjenigen welcher du dermahleinst Ihm zu Ehren in dem himmlischen Chor der Cherubinen und Seraphinen singen wirst“, schwelgte ein Altenburger Herausgeber 1746. Mit biblischen Holzschnitten, Goldschnitt und eingestanztem Namen war das Buch der Lob- und Trostgesänge zum Statussymbol bürgerlicher Kirchlichkeit avanciert, für Konfirmanden und Firmlinge ein Pflichtgeschenk, für Familien ein Generationenstammbuch; für Kirchenleitungen ein Kanonisierungswerkzeug, das ungute Lieder von den braven trennt. Am „falschen Gesangbuch“ zeigte sich, wer zur anderen Konfession gehört, in deutschen US-Gemeinden ging es dabei auch um ethnische Identität. Die Missouri-Lutheraner erklärten 1855: „Wenn es in Gemeinden nicht thunlich ist, vorhandene irrgläubige Gesangbücher mit rechtgläubigen zu vertauschen, so kann der Prediger einer solchen Gemeinde nur unter der Bedingung Glied der Synode werden, wenn er das irrgläubige Gesangbuch mit öffentlichem Proteste gebrauchen zu wollen verspricht.“

Eigentlich ist das Lied ein regionales Produkt. Die 500-jährige Mutation des Sammelsuriums zum perfekten Einheitsbuch war ein Projekt der Neuzeit, der Zentralisierung, der Kontrolle und pragmatischen Reduktion – lange vor dem Gremien-Marathon des „Gotteslob“.

So tobte 1757 an der thüringisch-sächsischen Grenze ein Streit zwischen Ober- und Untergreiz: Als das Gesangbuch beider Zwerg-Territorien vergriffen war, neue Buchbinder sich um die Neuauflage bewarben, die Zusendung der Papierproben amtlich verschlampt wurde. Für Inhaltskorrekturen intervenierte ein Theologe, Hofräte von Ober- und von Untergreiz beharkten sich, ein alternatives Format wurde erwogen; es ging um Kosten, um einen Anhang, um Gebetstexte rivalisierender Pastoren. Andere Redaktionsanläufe entwickelte in Berlin der Theologe Friedrich Schleiermacher. Als Mitglied jener Kommission, die das „Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinden“ bis 1829 zusammenstellte, hat er mehr als 400 Lieder auf bedruckten Blättern mit Gemeindegliedern ausprobiert, was an jene chaotischen Zettelhefte erinnert, in denen bis heute frische Gemeindesongs unterschiedlichster Qualität kursieren, um irgendwann zwischen Buchdeckeln höhere Weihen zu empfangen – oder lieber nicht.

Ob abgedreht anmutende Oldies durch plumpe Verständlichmachung, Geheimnisabschleifung oder historische Rekonstruktion für morgen bewahrt werden sollen, darüber könnten Experten diverser Epochen prächtig miteinander streiten. Für das schwindende Häuflein von Gesangbuchvertrauten behält die Intimität des Gerngesungenen ihren persönlichen Wert. Wer den mittelalterlichen Hymnus „Maria durch ein Dornwald ging“ schätzt, wird es aushalten, dass dieses auf antik getrimmte Folklore-Kunstlied in Wirklichkeit, nach jüngstem Forschungsstand, von Romantikern und Wandervogel-Leuten erfunden wurde. Fürs neue „Gotteslob“ wurde es für würdig befunden, wie auch Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen“: Hier allerdings beschädigt eine Schmusevertonung das im Gefängnis geschriebene Gedicht. Bei den sieben das Katholikenbuch bereichernden Dichtungen des evangelischen Lied-Großmeisters Paul Gerhardt wiederum wäre ein Rückgriff aufs „Original“ nicht immer die Patentlösung. Gerhardt-Verehrer dürften zwar viele blumige Zeilen des Klassikers „Ich steh an deiner Krippen hier“ vermissen, aber: Anhand früherer Publikationen lässt sich auch erkennen, dass schon bei der lutherischen Rezeption dieses barocken Kleinods schwächere Strophen auf der Strecke geblieben waren.

Und wenn das ganze Phänomen Gesangbuch demnächst auf der Strecke bleibt? Vor ein paar Jahren fand die Braunschweiger Müllabfuhr einen Schwung nagelneuer EG-Exemplare in ihren Tonnen, entsorgt von Konfirmanden, die damit nichts mehr anzufangen wussten. Kaum vorstellbar, dass trotz schrumpfender Kirchlichkeit der teure, zentralistische Formationsprozess für ein Einheitsgesangbuch in zwei Dutzend Jahren wieder aufgenommen wird. Billige, fixe Kommunikationsoptionen wie Beamer und Internet sprechen ebenso dagegen wie der Strukturwandel erodierender Volkskirchen. Endet das perfekte Großkirchen-Gesangbuch als Museum?

Dann gäbe es immerhin noch das Mainzer Gesangbucharchiv! Die einzigartige Forschungsstelle führt Erkenntnisse zum Thema samt Quellenreservoir in einer unauffälligen Fünfzimmerwohnung zusammen. 28000 Titel verzeichnet das Archiv in seiner Datenbank. Eigentlich ist der Gesang, aus dem das Beten und das Dichten des Homo sapiens entstand, ein archaischer Impuls, im Gesangbuch wird daraus eine Manifestation; der unsichtbare Korpus aller deutschsprachigen Gesangbücher in Europa umfasst bis dato schätzungsweise eine Millionen Lieder. Ein Labyrinth der Melodien, Worte, Leder- und Pappeinbände, der Bilder, Typografien, Kirchentagsheftchen, Litaneien, Gebete... 3800 haptische Originale füllen die Regale in vier Zimmern, 200 Faksimile speichert die Festplatte. 2000 „aktive Lieder“ kennt man derzeit im katholischen sowie im evangelischen Bereich, sagt Hermann Kurzke, der Gesangbuchpapst. Zahlreiche Studien zur Gesangbuch-Historie sind seit seiner Archivgründung vor 25 Jahren erschienen – aber ob diese Geschichte weitergeht? Das neue „Gotteslob“, rühmt Kurzke, sei mit 290 Stammteil-Liedern und bis zu 150 in regionalen Anhängen das gelungenste katholische Produkt seiner Spezies. Es verdiene, zum „Hausbuch“ zu werden, aber: Bei den Jüngeren sei der Sinn für diese Tradition „vollkommen abgerissen“. Die Chance zur Neubelebung gehe über Individuen, die persönliche Neuentdeckung eines Liedes: das „für mich“ wichtig ist.

So werden Menschen wandelnde Gesangbücher. Wie der 45-jährige Pfarrer in Moabiter U-Haft, später Häftling im KZ Sachsenhausen, der 1937/38 über elf Monate 326 Lieder auswendig lernt. Oder jene Schlaganfallpatientin, bei der ihr Besucher das Buch am Nachtisch sieht, es aufschlägt und „Du meine Seele singe“ anstimmt – und plötzlich singt die Sprechunfähige mit. Oder jener Greis, den als Teenager in Bethel der Sommerfestumzug aller kranken und gesunden Anstaltsbewohner berührt hatte, wenn 15 Strophen „Geh aus mein Herz“ gesungen wurden: mit dem seltsamen Satz „Narzissus und die Tulipan / die ziehen sich viel schöner an / als Salomonis Seide.“ Als Frau und Sohn an seinem Sterbebett, mitten im kalten Winter, für den Bewusstlosen ein paar Verse zu singen versuchen, kommt ihm das magische Wortpaar „Salomonis Seide“ über die Lippen. Solche wandelnden Gesangbücher gibt es bald nicht mehr. Es gibt aber noch ihre Lieder.

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