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Politik: „Freunde in der Freiheit“

Die Rede von Bundespräsident Horst Köhler zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge

Horst Köhler hat die Staats- und Regierungschefs der EU am Samstag bei einem Abendessen in Berlin willkommen geheißen. Seine Rede in Auszügen:

„(…) Ich möchte Ihnen nur ein wenig über drei Bücher erzählen, die in jüngster Zeit bei deutschen Lesern großen Erfolg hatten. Ich möchte daran eigene Gedanken über Europa knüpfen. (…)

Das erste Buch (…) hat der Journalist Wolfgang Büscher geschrieben. Es heißt „Berlin – Moskau“. Diesen Weg, 1800 Kilometer, ist Büscher zu Fuß gegangen, auf den Spuren der Grande Armée und der Wehrmacht. Mit der zog sein Großvater (…).

„Berlin – Moskau“ zeigt (…) wie unersetzlich die Freiheit ist, wie süß der Friede und wie tief der Brunnen der Vergangenheit. Wie dringend Europa der Versöhnung bedarf – einer Versöhnung, die nichts vom Geschehenen wegnimmt und doch sagt: „Das hast du getan. Aber so bist du nicht.“ Und: Wie sehr in Europa der Westen leuchtet, denn zu dem wollen alle gehören (…).

Alles das zeigt auch den epochalen Erfolg der europäischen Einigung. (…) Freiheit und Frieden sind eben wie Atemluft – erst der Verlust zeigt ihren ganzen Wert. Die Väter der Römischen Verträge kannten ihn genau: Alcide de Gasperi, Robert Schuman, Paul Henri Spaak, Jean Monnet, Joseph Luns, Walter Hallstein, Charles de Gaulle, Konrad Adenauer – Soldaten, Kriegsgefangene, Angehörige des Widerstands gegen die Faschisten und die Nazis, Gefangene der Gestapo. Sie hatten am eigenen Leib erfahren, was Krieg bedeutet, Unterdrückung, Gefangenschaft und Exil, und aus dieser Erfahrung wurde Führung. Die Europäische Union ist kein Mirakel, sie wurde gebaut, und die Bauleute wollten vor allem Freiheit, Frieden, die Herrschaft des Rechts und fairen Interessenausgleich, kurz: eine gute Gemeinschaft.(…)

Doch zurück zu Wolfgang Büscher: Sein Buch macht auch bewusst, dass die europäische Integration bis zu den Revolutionen von 1989 eben nur ein halber Sieg war. Erst von da an und erst seit dem Beitritt unserer mittel- und osteuropäischen Vettern wird die Union wahrhaft europäisch und heilt unser Kontinent zusammen. Das ist beispiellos, denn nie zuvor haben sich so viele Nationen und ihre Staaten aus freiem Willen zusammengeschlossen; und es ist ein ungemein spannender und spannungsreicher Prozess. (…)

Aber ich wollte ja über drei Bücher reden. Das zweite (…) hat Hape Kerkeling geschrieben (…). Er ist den Jakobsweg gegangen, den tausend Jahre alten Pilgerweg nach Santiago de Compostela. (…) Der große Erfolg des Buches (…) scheint mir ein Zeichen dafür, wie selbstverständlich ungezählte Bürger Europas der Frage nachgehen, was uns im Innersten Halt gibt. (…)

Das dritte Buch ist von Daniel Kehlmann und heißt „Die Vermessung der Welt“. Es erzählt (…) die Lebensgeschichten des Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß und des Naturforschers und Weltreisenden Alexander von Humboldt. (…) Die beiden sind durchaus typisch in ihrem Streben, stets nachvollziehbare Begründungen zu verlangen und zu geben: typisch für eine Kultur des Denkens und des Handelns, die seit je Europa geprägt hat. (…) Aber es steckt im Titel von Kehlmanns Buch auch ein Wortspiel: Könnte die wissenschaftliche Vermessung der Welt in Vermessenheit enden? (…) Kann nachhaltige Globalisierung eine Globalisierung der Lebensweise sein, die wir Europäer und einige andere Nationen des Westens zurzeit genießen und für die wir und andere allzu bedenkenlos die Welt verbrauchen?

Auch wo es um solche Fragen geht, richten sich aus aller Welt Blicke auf uns. (…)Was die Europäische Union bisher zum Beispiel für den Umweltschutz in ihren Mitgliedstaaten und weltweit getan hat, das kann sich durchaus sehen lassen und sollte uns Ansporn sein, auf diesem Gebiet weiterhin Verantwortung und Führung zu zeigen. Viele ausländische Betrachter sehen überdies unsere Mischung aus Freiheit und Solidarität als mögliches Vorbild für Nachhaltigkeit innerhalb einer Gesellschaft. (…) Unsere - trotz aller Unterschiede im Einzelnen eben doch unverwechselbar europäische – Verbindung von individueller Freiheit, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Kraft und sozialem und ökologischem Verantwortungsbewusstsein ist attraktiv. Wir sollten die geistigen und die materiellen Grundlagen für diese typisch europäische Mischung gemeinsam pflegen und stärken (…).

(…) Die Europäische Union hat gezeigt, wie Feindschaft überwunden werden kann und wie Völker und Staaten ein gedeihliches Miteinander schaffen und sich auf das Gemeinwohl besinnen. Die Union gibt ihren Mitgliedern die Ordnung, um ihre nationalen Interessen auf faire Weise auszugleichen und um ihre gemeinsamen Anliegen voranzubringen, hier in Europa und – vorausgesetzt, wir sprechen mit einer Stimme – auch weltweit. Wir haben innerstaatlich und zwischenstaatlich zu einem Miteinander gefunden, das Vielfalt zu schätzen weiß und zugleich zutiefst wertgebunden ist. Das alles macht uns nicht besser als andere. Aber es bedeutet, dass wir Bürger der Europäischen Union mit selbstbewusster Bescheidenheit dazu beitragen können, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“

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